Eine Reise ins Land der Träume

Dominique Dumais: „Lebenslinien“

oe
Mannheim, 15/01/2005

So schön geordnet und begradigt wie auf dem Stadtplan von Mannheim geht es im Leben seiner Bewohner offenbar nicht zu. Jedenfalls nicht im Leben der Tänzer des Nationaltheaters – wenn man denn dem neuesten Ballett von Dominique Dumais Glauben schenken darf. Es heißt „Lebenslinien“ und spielt sich in drei Teilen ab zu drei verschiedenen Musikstücken. Der erste zu John Adams‘ „Harmonielehre“ (der dürfte inzwischen ganz schön Tantiemen scheffeln, gehört er doch zu den meistaufgeführten zeitgenössischen Komponisten – gerade jüngst erst präsentierte Mainz ihn in XVI – Sie erinnern sich?), der zweite zu einer akustischen Hintergrundkulisse (fast hätte ich Hintergrunzkulisse gschrieben), „Slow Motion“, von David Lang, und der dritte zu John Taverner „The Last Sleep of the Virgin“. Den dritten habe ich mir geschenkt – nicht, weil mir die beiden ersten missfallen hätten, sondern lediglich, weil ich, der überlangen Pausen wegen, nicht eine geschlagene Stunde auf dem kalten Mannheimer Hauptbahnhof auf meinen nächsten Zug nach Stuttgart hätte warten wollen.

Zwei Monate nach den ambitionierten „Goldberg-Variationen“ schon wieder drei Uraufführungen an einem Abend – Kevin O‘Day und Dominique Dumais halten ihre Fünfzehn-Tänzer-Schar ganz schön auf Trab. Da fällt mir auf, dass eine so kreative choreografische Lebenspartnerschaft wie sie die beiden praktizieren, etwas höchst Seltenes zu sein scheint – eher als gemischtes Duo zwischen Choreograf und Pädagoge, was sogar häufiger der Fall zu sein scheint. Doch zwei gleichberechtigte Choreografen? Da fallen mir auf Anhieb nur noch Alwin Nikolais und Murray Louis ein. Dankbar wäre ich, wenn man mir noch weitere Beispiele nennen würde (wie ich gelegentlich immer mal wieder darauf hinweisen möchte, dass mir Kommentare – gerade auch gegensätzliche Meinungen – durchaus willkommen sind).

Dumais will ihre „Lebenslinien“ als „eine Reise mit wechselndem Panorama“ verstanden wissen: „Zu Beginn beschäftigen wir uns mit dem Unbewussten und mit Träumen. Im zweiten Teil handelt es sich um die Ebenen des Bewusstseins und den Akt des Ordnens. Der dritte Teil stellt die Auflösung dar – das Nichtvorhandensein von Zeit“. Den ersten Teil fand ich stark, sehr stark sogar und atmosphärisch dicht. Was sicher mit an der ausgesprochen suggestiven, insistierend vom Orchester des Nationaltheaters unter der Leitung von Teill Hass wiedergegebenen Musik von John Adams lag. Aber auch an dem unheimlichen Raum von Tatyana van Walsum mit seinen verschiedenen Ebenen und Podien und den überlebensgroßen Figuren, die als Projektionen aus dem Nichts auftauchten und sich in der Luft bewegten, sowie an dem schwarzen Engel (Luches Huddleston Jr.?), der sich wie ein Todesbote gegen das weiß trikotierte Tänzerhäuflein wandte.

Für mich fungierte er als eine Art Katalysator des Todes, eine Figur, wie von Dante, dem englischen Mystiker William Blake oder Max Ernst inspiriert. Sehr wirkungsvolle Gegenführungen von Figuren und Zusammenballungen, markante Soli, modernes Bewegungsvokabular, durchaus variabel, aber auch auf Spitze. Eine Atmosphäre der Bedrohung. Gegen Ende Gekritzel auf einer Tafel. Das stellt sich dann im zweiten Teil, ins Große projiziert, als Traumfantasterei à la Beckmesser in den „Meistersingern“ heraus, Nonsense-Poesie einer spinnerten Seele, wird von einer geheimnisvollen Hand weggewischt, dann wieder ergänzt, in Chinesisch wirkende Schriftzeichen übersetzt. Auf der Bühne dazu eine schreiende und johlende schwarze Menge, unverständliche Texte, der vorherige schwarze Engel jetzt auf einem Rolltisch herumgekarrt, das abgenommene Flügelpaar in der Hand, lauthals sein Mikrofon traktierend, zu Dutzenden in der Luft herumflatternde Papierbögen, viel Klebebandmarkierungen auf dem Boden, auch Versiegelung einzelner Figuren, ein einsamer, nicht sonderlich virtuoser Stepptänzer – das komplette Chaos. Nicht unbedingt „my cup of tea“. Aber vielleicht ja der Aufstand gegen Mannheims quadratische Ordnungsdiktatur.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern