Der neue Wind

Die neuen „Giselle“-Besetzungen in der Wiener Staatsoper

Wien, 10/11/2005

In der Staatsoper weht ein anderer Wind: Wiens neuer Ballettchef, Gyula Harangozó, zeigt zum Auftakt der attraktiv besetzten „Giselle“-Serie am 15. Oktober, wie es künftig noch intensiver weitergehen muss. Das Corps de ballet war ungewohnt um Präzision und ätherische Linie bemüht und lieferte - mit Dirigent András Déri im Einklang - einen veritablen Rahmen für die Solisten. Aliya Tanikpaeva ist die dem Haus nunmehr angehörende Titelheldin, die neue Kriterien möglich macht. Auf Anhieb als russisch geschulte Ballerina erkennbar, muss man sich um tänzerische Grundlagen und Stilfragen kaum Sorgen machen. An der Darstellung der Wahnsinnsszene muss sie noch feilen, im zweiten Akt überzeugt das zarte Wesen.

Dass internationale Konkurrenz eingezogen ist, merkt man nicht nur an dem präsenten Hilarion von Ivan Popov, der vom Typ her wohl bald die Prinzen-Rollen bekommen könnte. Auch Lokalmatador Gregor Hatala setzt seinen Ehrgeiz in eine bravouröse Interpretation des Albrecht und gewinnt. Dichter Applaus. 

 Wie unterschiedlich zwei Künstler sein können, die nicht nur aus derselben Stadt sondern mehr oder weniger aus derselben Schule kommen: Aus Moskau wurde die junge Polina Semionova nach Berlin geholt, das ihr zujubelt. Dass sie kürzlich mit Elena Tschernischova die Rolle der Giselle studierte und die Titelpartie nun in der Wiener Inszenierung ihrer Lehrmeisterin tanzt, klingt wie Schicksal. Dass Sergei Filin, Starsolist des Moskauer Bolschoi Balletts, nun gar nicht zu dem Rohdiamant passt, der wegen seiner Größe auch einen mächtigeren und offenherzigeren Partner benötigt, war in der Staatsoper nun fest zu stellen.

Polina Semionova verkörpert eigentlich den Typ einer modernen, langgliedrigen athletischen Ballerina, die mit traditioneller russischer Ästhetik nichts mehr zu tun hat. Sie ist natürlich, verfügt über einen ungewöhnlich biegsamen Körper und versteht es, ihre Giselle so einzurichten, dass man ihrem Bewegungsfluss vor allem im 2. Akt bewundernd zusieht. Dem Unverständnis des Dirigenten András Déri, der Mühe mit dem Orchester hatte, muss sie trotzen.

Sergei Filin besteht als Albrecht auf der Marke Bolschoi mit Patina. Mit aristokratischer, altmodischer Linie verweigert er sich emotionalen Ausbrüchen um seine verlorene Giselle. Einen Kontrapunkt setzte die zarte Anna Tsygankova als edel gemeißelte Myrtha.

Beredter kann „Giselle“ derzeit an der Staatsoper nicht sein: Das Wiedersehen mit dem im Londoner Royal Ballet engagierten Paar, Alina Cojocaru und Johan Kobborg, geriet zum Glück, das man möglichst bald wieder erleben will. So zwingend, weil dramaturgisch von den beiden Tanz-Schauspielern bis ins Kleinste ausgetüftelt und mit großer Natürlichkeit sichtbar gemacht, wird die Wahrhaftigkeit und Unbeugsamkeit der Liebe zum alles Andere überwältigenden Thema.

In der „Giselle“-Interpretation von Cojocaru und Kobborg (Herzog Albrecht) dient der Tanz, den beide wie selbstverständlich stupend phrasieren, in jeder Sekunde der zum Scheitern verurteilten Beziehung. Da wird nicht vorgetanzt, um Applaus abzuholen, sondern der technische Anspruch ist Mittel zur Charakterisierung des Menschen auf der Bühne. Das klingt simpel und doch passiert so etwas selten. Kein Kitsch, kein Pathos. Mitreißende Tanz-Freude treibt Alina Cojocaru in den Bühnen-Tod und gewaltige Sprünge der Verzweiflung wie sie Johan Kobborg setzt, retten seinen Albrecht nicht vor dessen schlechtem Gewissen. 

Wenn in „Giselle“ die Giselle fehlt, kommt keine Stimmung auf, selbst wenn der Albrecht Leonid Sarafanov heißt. Der junge Mann, Erster Solist des Kirov-Balletts, sieht nicht aus wie 23, hat aber die Anlagen für Charisma und elegante Erscheinung. Dass er Preisträger großer Wettbewerbe ist, unterstreicht er in seinem Staatsopern-Debüt - übrigens in jenem Biedermeier-Ballett, das 1955 zum Premieren-Reigen in der wiederaufgebauten Staatsoper zählte. Mit geschwellter Brust begnügt sich Sarafanov nicht mit „gewöhnlichen“ Solo-Variationen, sondern präsentiert gerne mehr. Ein junger Mann eben, der in den nächsten Jahren zu einem durchgestalteren Albrecht wachsen könnte.

An seiner Seite war erstmals die aus Minsk stammende, zuletzt in Budapest und nun in Wien engagierte Irina Tsymbal zu sehen. Eine attraktive Frau, die allerdings nicht berührt. Die anspruchsvolle, weil viele Facetten, vor allem Schauspiel verlangende Rolle der Giselle scheint nicht ihre beste zu sein. Vor allem im ersten Akt wirkte Tsymbal immer wieder unbeholfen; die berühmte Wahnsinns-Szene zog sich in die Länge. Ihr Spiel erreichte das Publikum nur selten. Der zweite, weiße Akt in dem die Form dominiert, gelang ihr besser.

Zum innigen Paar wurden die beiden Wien-Debütanten nur in den Schluss-Posen. Eindrucksvoll Ivan Popov als Hilarion, ausbaufähig Patricia Tichy als Myrtha, geschmeidig Maria Yakovleva und Marina Kanno. Szenenapplaus für den Gleichklang des schönen Wilis-Ensemble. 
 

Mit freundlicher Genehmigung des Kurier 
Link: www.dasballett.at

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