Alexej Parin aus Moskau zu Gast im koeglerjournal

Schostakowitschs „Der Bolzen“, neu choreografiert von Alexej Ratmansky beim Bolschoi-Ballett

Stuttgart, 05/03/2005

Es ist mir eine besondere Genugtuung, meinen Freund und Kollegen Alexej Parin als Gastkommentator den Lesern des koeglerjournal präsentieren zu können. Er gehört zu den angesehensten russischen Kulturpublizisten und gilt auch im westlichen Ausland als eine der integersten Autoritäten auf den Gebieten der Oper und des Balletts. Umso erfreulicher, ihn als Berichterstatter über die jüngste Premiere des Bolschoi-Balletts für www.tanznetz.de gewinnen zu können.

Der Sprung aus dem Kolchos in die Fabrik gelingt nicht. Alexej Ratmansky (Jahrgang 1969), Mitschüler von Weltstar Vladimir Malakhov und dem heutigen Ballettdirektor vom Bolschoi-Theater Gennadij Janin (sie haben sogar zu dritt ein Zimmer im Schülerheim geteilt), hat seine internationale Karriere eigentlich in Kopenhagen angefangen. Dort hat er lange Jahre getanzt, dort hat er angefangen, zu choreografieren. Seine ersten Einakter auf russischem Boden waren „Die Launen des Manierismus“ und „Träume von Japan“, die seine Vertrautheit mit modernen Denkweisen bewiesen und ihn auch als Kreateur eleganter, ja sogar schicker Ballett-Konfektion ausgewiesen hatten. Im Null-Kontext der heutigen klassischen Choreografie in Russland wollte das schon etwas heißen, und so wurde er schlagartig zum Hoffnungsträger erklärt.

Seine „Cinderella“ im Marientheater zeigte dann, dass ihm eine klare Dramaturgie fehlte, obwohl manche ästhetizistischen Details durch ihre paradoxe Natürlichkeit überzeugten. Bis jetzt bleibt der Einakter „Leah“ zur Musik von Leonard Bernstein, die Ratmansky zuerst für Nina Ananiashvili kreierte und später fürs Bolschoi überarbeitete, das stärkste Stück in seinem Oeuvre. Hier dienen die tänzerischen Mittel direkt dem Inhalt, hier erscheinen die Tänzer nicht als elegante Virtuosen, sondern eher als Vermittler der anderen, „dämonischen“ Welten. Als Chef des Bolschoi-Balletts musste Ratmansky sich der großen Form annähern, weil abendfüllende Ballette zur ungeschriebenen Tradition des Hauses gehören.

Es war geplant, dass er drei Ballette mit Musik von Dmitri Schostakowitsch („Der helle Bach“, „Der Bolzen“, „Das goldene Zeitalter“) inszenieren sollte – zum hundertsten Geburtstag des großen Komponisten im nächsten Jahr. Den „Hellen Bach“ machte Ratmansky zusammen mit dem Ausstatter Boris Messerer aus dem großen Clan der Messerer-Plissetzkaja. Ohne prinzipiellen Eingriff in das Libretto zeigten die Inszenatoren den Alltag des sowjetischen Bauernlebens im Stil der All-Unions-Ausstellung der wirtschaftlichen Ereignisse und der pompösen Filme der 30er Jahre. Die Geschichte der Verwirrungen in einem Kolchos, wohin die klassischen Tänzer aus der Metropole kommen, um das schöne und satte Leben noch schöner zu machen, wurde mit Lächeln und Kichern erzählt, allerdings ohne jeden Anflug von Tragik. Alles war eindimensional und leicht im schlechten Sinne, die Musik von Schostakowitsch diente zum Zweck des puren Divertissements.

Die zweite Bemühung, die bravouröse und manchmal hochtrabend großkotzige Musik wiederzubeleben, galt der Produktion des „Bolzen“, deren Premiere am 25. Februar an der Neuen Bühne des Bolschoi-Theaters stattfand. Was in „Der helle Bach“ schwach war, und zwar die fehlende eigene Schrittidiomatik, wurde zur Hilflosigkeit – was die starke Seite markierte, und zwar die helle Ironie und die schicke Bravour, wurde zum hohlen Amüsement. Das Bühnenbild vom Petersburger Ausstatter Semjon Pastuch, der im Schauspiel der 70er Jahre die Aufmerksamkeit der Kenner erregte und seit dem Umbruch ständig in den USA lebt, präsentiert überdimensionale Roboter, die sehr elegant ihr Ballett am Anfang der Show tanzen. Der Choreograf aber verwendet diese Monster lediglich als Staffage, nur einmal wirkt eine Person mit einem dieser Automaten zusammen, und zwar der Antiheld, der sozusagen im Schoß dieser menschlichen Maschine schläft. Die Kostümbildnerin Galina Solowjowa verfährt sehr geschickt in ihren aparten Stilisierungen, besonders schick sehen die scharlachroten Overalls der Gardisten aus.

Moskau ist inzwischen mit verständlicher Verspätung zur Hauptstadt des Musicals geworden. Überall tanzt und singt man, lacht und schmunzelt, schreit und cancaniert. Das Unterhaltsame und das Amüsante, das Komödiantentum sind Kernbegriffe der heutigen russischen Hauptstadt. In diesem Kontext fühlt sich die neue Inszenierung wohl, aus der traurigen Geschichte der Revolte macht man auf der Bühne keine Tragödie, nicht einmal ein Drama. Man erschießt den unglücklichen Burschen auf der Bühne eher nebenher, während eines bravourösen Marsches. Masken ersetzen Charakter, es fehlt an Dramaturgie, und die Choreografie bleibt ohne jeglichen künstlerischen Anspruch. Man fragt sich sogar, wofür die Ballettschuhe dienen und was die Ballettschritte für diese Arbeiter und Arbeiterinnen sollen. „Der helle Bach“ zeigte zumindest eine zierliche klassische Ballerina im Kontext der plumpen Kolchosniks, und das war doch ganz nett. Hier, wo bunt angesagt ist, herrscht im geistigen Sinne die Monotonie der grauen Farbe. Und das ist zum Weinen! Den Gerüchten zufolge inszeniert Ratmansky das als dritten Teil des geplanten Schostakowitsch-Triptychons geplante „Goldene Zeitalter“ nicht mehr. Stattdessen wird es wohl eine neue Fassung der Inszenierung von Juri Grigorowitsch geben, der einmal den „Bolzen“ wiederbeleben wollte. Ob Ratmansky dem Hause erhalten bleibt, ist derzeit ungewiss. Alexej Parin

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