Russisch-französische Revolution im Palais Garnier

Das Bolschoi-Ballett zeigt „Flammes de Paris“

Paris, 08/05/2011

Ein Ballett über die französische Revolution auf der Bühne des Palais Garnier, getanzt von Russen in einer modernen Fassung nach sowjetischem Vorbild – dies mag auf den ersten Blick als ein idealer Ausklang des französisch-russischen Jahres erscheinen, zumal sich hier russische und französische Geschichte und Tanzgeschichte treffen. So ist in Vassili Vainonens Urfassung von „Flammes de Paris“ aus dem Jahr 1932 das Erbe des Marseiller Tanzreformers Marius Petipa deutlich zu spüren, unter anderem im brillanten Grand Pas im 2. Akt. Darüber hinaus spielt die Geschichte der arglosen Revolutionäre und der grundverdorbenen Adligen deutlich auf die russische Revolution an, zu deren Jahrestag das Stück in der Sowjetunion regelmäßig aufgeführt wurde. In Alexei Ratmanskys Neufassung von „Flammes de Paris“ aus dem Jahr 2008 geht es weder darum, ein historisch überzeugendes Porträt der Revolution zu zeichnen, noch darum, Vainonens zwangsläufig stark ideologisch geprägte Version zu rekonstruieren. Das Ballett will weder eine Kritik noch eine Verherrlichung der Revolution sein. Doch worum handelt es sich dann? Mit seinem teils modernen, teils traditionellen Ansatz (vor allem die mit viel Pantomime erzählte klischeehafte Handlung im ersten Akt) ist das Stück weder eine zeitgemäße Interpretation noch ein wirkliches Zeugnis der Vergangenheit, sondern navigiert vielmehr zwischen diesen beiden Polen hin und her. Dennoch bietet Ratmanskys Fassung einen historisch wertvollen Einblick in einen beinahe vergessenen Teil des Repertoires.

Gewiss: eine authentische Rekonstruktion eines sowjetischen „Dramballetts“, in dem „das Volk die Hauptperson“ ist und in dem die Revolution kritiklos gefeiert wird, würde heute bestimmt kaum einen Zuschauer begeistern. So beschloss Ratmansky, zwei Liebesgeschichten in den Mittelpunkt des Balletts zu stellen, von denen er eine vollkommen neu erfindet. Diese veranschaulichen sowohl die Begeisterung für die Revolution als auch ihre dunklen Seiten: das Marseiller Bauernmädchen Jeanne schließt sich der Revolution aus Liebe zu Philippe an, während die Tochter eines Marquis, Adeline, Jeannes Bruder Jérôme nach Paris folgt und aus Liebe zu ihm zur Jakobinerin wird, bis sie von der alten Dienerin des Marquis verraten und guillotiniert wird. Darumherum weben sich noch allerlei Nebenhandlungen: das frivole Treiben des Marquis, dem schließlich durch die Guillotine ein Ende gesetzt wird, ein eifersüchtiger König, der seine kokette Gattin zur Ordnung ruft und sich durch groteske Hoftänze die Zeit vertreibt, ein Hofballett „Rinaldo und Armida“ mit gewollt abstrusem Dekor und Kostümen und allerlei wilde Volkstänze zur Marseillaise und anderen revolutionären und vorrevolutionären Melodien, die Komponist Boris Assafjew geschickt in seine Partitur eingliedert.

All dies bietet immerhin vor allem im 2. Akt Anlass zu einigen ausgezeichnet getanzten Soli, Pas de deux und Gruppentänzen. Nina Kaptsova und Viacheslav Lopatin als Jérôme und Adeline, Alexandr Vodopetov als Gilbert, Kapitän der Marseiller, Ekaterina Kryssanova und Artem Ovcharenko als die Schauspieler Mireille und Mistral – sie alle sind wild entschlossen, nicht nur die Bastille zu erstürmen, sondern auch das anspruchsvolle Pariser Publikum zu erobern. Dies gelingt vor allem dem funkensprühenden Star-Duo Natalia Osipova und Ivan Vasiliev als Jeanne und Philippe – letzterer kann sich nach seinem spektakulären Solo kaum sattsehen an der jubelnden Menge und lässt seinen glühenden Blick langsam vom Parkett bis in die obersten Ränge schweifen. Obwohl sie beide von eher kleiner Statur sind, scheint ihnen die Bühne des Palais Garnier kaum auszureichen für ihre mit gewaltigen Sprüngen und blitzschnellen, musikalisch präzisen Pirouetten gespickten Diagonalen und Manèges. Dabei gelingt es ihnen, technische Höchstleistungen mit so vollkommener Beherrschung darzubieten, dass sie wahrhaft zu den dargestellten Charakteren zu gehören scheinen, als Ausdruck ihrer Vitalität und ihres Enthusiasmus für die Sache, für die sie kämpfen. So entbrennt Paris an diesem Abend tatsächlich vor Begeisterung, weniger über die halbherzige Hommage an ein Stück französischer Geschichte, als über das brillante Erbe des Hofballetts, das trotz aller ideologischer Spagate (als Divertissement des Adels, das in beiden Fällen in den Dienst des neuen Regimes gestellt wurde) sowohl die Folgen der französischen als auch der russischen Revolution überlebt hat.

Besuchte Vorstellung: 06.05.2011

www.operadeparis.fr

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