Masse ist nicht automatisch Klasse

Die Fondation Jean-Pierre Perrault gastiert mit "Joe" auf Kampagel

Hamburg, 08/10/2004

Die Spielzeit 2004/2005 wurde gestern auf Kampnagel mit „Joe“, einer bereits 20 Jahre alten Produktion des im Dezember 2002 verstorbenen kanadischen Choreografen Jean-Pierre Perrault eröffnet. 32 Tänzer – mit Mäntel, Hüten und derben Stiefeln bekleidet – begeisterten vor ausverkauftem Haus das Hamburger Publikum. Das Spektakel kommt 70 Minuten lang (fast) ohne Musik im herkömmlichen Sinne aus, die Tänzer laufen, springen, stampfen, schleifen mit ihrem derben Schuhwerk über die Bühne, erzeugen live ihren eigenen Soundtrack. Minimalistisch und gleichzeitig sehr ausdrucksstark durchmessen sie den Raum, ab und an versucht ein Protagonist sich der Masse zu entziehen, doch die Masse ist stärker. Die Anonymität siegt immer wieder über die Individualität.

Choreografisch und auch tänzerisch wird leider jedes Risiko vermieden, viele Szenen wirken wie aus einem choreografischen Lehrbuch entnommen. Perrault inszenierte geschickt visuell ansprechende Momente, Szenen und Bilder funktionieren immer über die große Anzahl von Tänzern auf der Bühne. Rhythmus und Energie der Tänzer springen unweigerlich auf das Publikum über, unmöglich sich zu entziehen, derart gewaltig und präsent schwappt der Rhythmus in den Zuschauerraum.

Hier liegen die Schwächen und Stärken dieser Produktion: Es macht Spaß, in einer zeitgenössischen Produktion die unglaubliche Zahl von 32 Tänzern zu sehen, die wie ein Schweizer Uhrwerk agieren, und es macht Spaß, sich von der scheinbar unbändigen Energie der Tänzer mitreißen zu lassen. Doch erschöpft sich genau hier auch das kreative Potenzial dieser Arbeit, die abseits der Massenszenen wenig zu bieten hat. Masse ist nicht automatisch Klasse, man fühlt sich einfach zu oft an kommerzielle Produktionen à la Riverdance erinnert.
Nichtsdestotrotz ein intelligenter Schachzug der Organisatoren von Kampnagel, die Saison mit einem publikumswirksamen Stück wie „Joe“ zu beginnen – sicherlich wird man hiermit auch ein Publikum begeistern, das sich experimentelleren Arbeiten verweigert.

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