Kreativer Humus für Tanz

Ein Gespräch mit Prof. Enno Markwart, dem Rektor der Palucca Schule Dresden

Dresden, 20/08/2004

Die Palucca Schule Dresden, gegründet und geprägt von der Tänzerin und Pädagogin Gret Palucca (1902-1993), ist Deutschlands einzige Hochschule für Künstlerischen Tanz, in der sowohl Bühnentanz, Tanzpädagogik und seit 1998 auch Choreografie gelehrt werden. Derzeit studieren hier 206 junge Leute aus sieben Ländern. In Deutschlands Tanzszene kennt man den schlanken, meist schwarz gekleideten und agilen Enno Markwart – er wurde 1942 in Berlin geboren, absolvierte seine Tanzausbildung in Dresden bei Gret Palucca, war Tänzer, Ballettdirektor, Choreograf, 1987 bis 1992 Künstlerischer Leiter Ballett der Oper Leipzig, Mitarbeiter der Zentralen Bühnenvermittlung, ist seit 1997 Direktor und Prof. für Künstlerischen Tanz und seit 1999 Rektor der traditionsreichen Palucca Schule Dresden.
 

Herr Prof. Markwart, inwieweit ist Kunst, Tanzkunst lernbar?

Enno Markwart: Erlernbar ist immer die handwerkliche Komponente eines Tänzers, Choreografen oder Pädagogen. Wie jeder Beruf haben auch diese ein handwerkliches Fundament. Das ist erlernbar. Inwieweit jemand die Welt sensibel aufnehmen und künstlerisch reflektieren kann, ist nur bedingt erlernbar. Aber es spielt eine Rolle, welche Lehrer du gehabt hast. Die Anleitung die schöpferische Seite betreffend ist noch einmal etwas ganz anderes. Ich glaube nachweisen zu können, dass in jedem Menschen mehr Fantasie steckt, als in den meisten Fällen wachgerufen wird. Fantasie wird nur selten geweckt. In der Persönlichkeit liegt die Ausgangsbasis für Kreativität. Gute Schulen sind immer aus der Kompetenz ihrer Mitarbeiter gewachsen, aus der kreativen Kraft und dem eigenen inhaltlichen Anspruch, nie aus übergestülpten Ideen von außen – Geld allein ist unpersönlich. Kompetenz entsteht immer aus dem Wirken bestimmter Persönlichkeiten. Denken Sie an die Folkwang-Schule Essen und Kurt Jooss, an Stuttgart und John Cranko. In Dresden hat Palucca verstanden, Fantasie frei zu rütteln, wach zu machen. So ist der kreative Humus entstanden, den es zu mehren gilt.

Was unterscheidet eine Kunsthochschule vom 'normalen' Hochschulbetrieb?

Enno Markwart: Visionäre gibt es in der Wissenschaft genauso. Vielleicht ist die Temperamentsskala unterschiedlich. Die Fantasie ist unterschiedlich. Wenn ich mich auf eine Tanzschule beziehe, ist es auch die Altersstruktur. Neben dem, was du als Lehre betreibst, bist du den ganzen Tag noch als Lehrer erzieherisch gefordert. Das betrifft den Wertekanon sowie die Hinwendung zur Kommunikation. Dieses Kommunizieren im Tanz, etwas Mitzuteilen über den Menschen in der Welt, muss vorbereitet sein. Der soziale Aspekt im weitesten Sinne hat im Tanz eine geniale Möglichkeit. Tanz wirkt unmittelbar. Tanz ist insofern universell, weil er den Menschen komplett erfasst. Geist, Körper und Gefühl sind nicht mehr getrennt, alles ist aktiv. Darin liegt sein Vorteil und sein Nachteil. Beim Drama bleibt der Text, bei der Musik bleiben die Noten erhalten. Tanz meint den ganzen Körper des Einzelnen, betont die Unverwechselbarkeit des Einzelnen, seine Individualität. Diese Einmaligkeit herauszufordern, darin liegt das Potenzial. Wir sind zugleich gesellschaftliche und individuelle Wesen. Das ist der lebenslange Widerspruch, der Zwiespalt, der jeden von uns treibt. Aus diesem Inhalt, der Suche nach einem besseren Zusammenleben, ergibt sich das kommunikative Element.

Die Studentinnen und Studenten sehen sich konfrontiert mit einer und integriert in eine ungeheure Breite und Vielfalt tänzerischer Entäußerung. Worauf konzentriert sich die Arbeit Ihres künstlerischen Kollegiums in Zeiten des Pluralismus?

Enno Markwart: Unser Profil zielt handwerklich auf Vielseitigkeit, aber nicht auf Beliebigkeit. Nach der künstlerischen Seite gefragt, antworte ich immer mit Palucca: „Ich will gewiss keine Nachahmer erziehen“. Wir möchten ein breit gefächertes Handwerk mit heutiger Welterfahrung verbinden. Von unseren Studenten und Absolventen erwarte ich das Individuelle. Ermutigung ist wichtig. Improvisation ist ein entscheidender Faktor für innere Überzeugung, Selbstbehauptung und künstlerische Freiheit. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit in der Kunst kann ich in allen Genres und in allen Sparten einbringen und ausleben. Es spielt keine Rolle, was mir als Rektor gefällt. In diesem Sinne ist es mir egal, ob jemand an der Oper, im Friedrichstadtpalast oder auf einer Bahnhofsperformance tanzt. Entscheidend ist, ob er mit Professionalität und Lust seinen Lebensunterhalt verdient. Das Problem der Studenten ist das Überangebot. Es ist ganz schwer, dass sie zu sich selbst finden können. Die Gefahr, latent an der Oberfläche zu schwimmen, ist enorm. Man kann heute scheinbar alles leicht haben. Tiefgang ist ein sehr schwer erworbenes Gut. Oben schwimmst du mit. Gegen den Strom schwimmen geht nur, wenn du Tiefe hast, wo der Anker Halt finden kann. Deshalb versuchen wir mit den unterschiedlichsten Angeboten Kreativität zu ermöglichen.

Es gibt eine Faszination in Personen, besonders auf der Bühne und im Film - Darsteller, die sich innerlich entblößen. Dazu gehört Mut. Man ist ungeschützt, verletzlich. Innerliche Entblößung ist ein Vorgang, der spürbar alle Menschen betreffen kann. Er spricht stellvertretend das Lieben und Leiden aus. Über den Darsteller entsteht eine emotionale Solidargemeinschaft. Obwohl ich meinen Nachbarn im Theater oder Kino gar nicht kenne, spüre ich: ich bin nicht allein in der Sache. Wegen dieses unglaublichen Erlebnisses liebt man besondere Schauspieler, Tänzer, Sänger. Man erkennt eben doch die Person in der Rolle! Der Darsteller, erbringt spielend das Opfer, damit es zwischen mir und den anderen besser funktioniert.

Neben Ihrer Arbeit als Rektor unterrichten Sie Fantasielehre und choreografieren. Welchen Rat geben Sie Ihren Studenten mit auf den Berufsweg?

Enno Markwart: Wenn sie nichts Eigenes zu sagen haben, sollen sie nicht auf die Bühne gehen.

Die Palucca Schule ist derzeit aus ihrem angestammten Haus am Basteiplatz in ein großes Gebäude der Freimaurer-Loge in der Bautzner Straße 10 umgezogen. Eine Interimslösung, denn ab Sommer 2004 beginnen die Bauarbeiten für einen großzügigen Neubau neben dem Stammhaus. Ohne Vertrauensvorschuss von Politik und Gesellschaft kann Kunst sich nicht entwickeln. Der Tanz hat es schwer in Zeiten leerer Kassen und oft fehlender Lobby. Liebt der Freistaat Sachsen den Tanz?

Enno Markwart: Die Palucca Schule ist 77 Jahre alt, hat sich in ihrem schöpferischen Potenzial gegen viele Schwierigkeiten bewährt. Wie in anderen Bereichen war auch die Umbruchsituation nach der Wende keine leichte. Die Politik hält zu uns. Da wird immer mal wieder von „Kleinod“ gesprochen. Schließlich hat man sich hier in Sachsen auch für William Forsythe entschieden. Das begrüße ich sehr. Allerdings besteht die freie Szene in Dresden leider nur aus wenigen Einzelkämpfern.

Im Herbstsemester 2006 wird der erste Diplom-Studiengang Tanztherapie für professionelle Tänzer immatrikuliert. Bisher gibt es für Nichtprofis eine berufsbegleitende Weiterbildung an einer der rund 45 privaten Institute für Tanztherapie. Profitänzern ohne Altersbeschränkung eröffnet sich mit diesem neuen Studiengang eine interessante Berufsperspektive. Worin liegt für Sie der Hauptgrund, diesen Studiengang gerade an der Palucca Schule neu zu etablieren?

Enno Markwart: Sie ist die einzige Hochschule für Tanz in Deutschland. Dort gehört Tanztherapie als fünfter Studiengang endlich hin. Wir sind dankbar, dass wir in der inhaltlichen Vorbereitung eine große Unterstützung durch das Langen Institut in Monheim erfahren haben. Der soziale Aspekt einer zweiten Berufschance für Tänzer spielt eine wichtige Rolle. Welchen Wert die Tanzkunst hat, kann man auch daran ablesen, wie das Erlangen eines zweiten Berufes staatlich (ohne soziale Deklassierung für die Betreffenden) unterstützt wird. Hier ist die Politik gefragt. Wir sehen mit dem zweijährigen Ergänzungsstudiengang eine potenzielle Chance, diese berufliche Lücke für Tänzerinnen und Tänzer mit dem Zielpunkt Arbeitsmarkt zu schließen.

Im letzten Studienjahr waren Sie mit Studenten zum Austausch in den USA, in St. Petersburg, vor kurzem in Japan, und die Tanzpädagogen sammeln derzeit wiederholt Erfahrungen im holländischen Tilburg. Wie beurteilen Sie in Zeiten der Globalisierung das Verhältnis von internationaler Vernetzung und nationaler Eigenständigkeit?

Enno Markwart: Folklore erhält man sich als Tradition, um zu wissen, woher man kommt. Das nationale Element wird sich in der Kunst doch Stück für Stück aufheben. Dadurch wird aber nie die schöpferische Potenz des Einzelnen aufgehoben. Das Schöpferische ist seiner Natur nach immer etwas Neues und an das menschliche Individuum gebunden. Keine Vernetzung kann das kreative Potenzial des Einzelnen ersetzen.

Tanz braucht Visionen. „Ich will nicht schön und lieblich tanzen“, war Paluccas Motto. Welche Vision treibt Sie?

Enno Markwart: Als Tänzer und Choreograf habe ich natürlich meine Vorstellungen im Zusammenhang mit dem Werden junger Künstler. Aber ehrlich gesagt war und ist mein vorrangiges Bestreben, diese Hochschule in ihrer Struktur zu entfalten, zeitgemäße Studienformen zu entwickeln. Als ich kam, gab es lediglich den Studiengang Bühnentanz, jetzt sind es vier Studiengänge und 2006 kommt die Tanz- und Ausdruckstherapie hinzu. Wir haben 2000 das Palucca Tanz Studio gegründet und ich möchte noch eine Stiftung gründen, um es finanziell zu sichern. Bei der Länge des Studiums muss man auch über Bachelor und Master nachdenken. Und schließlich wird bald der Neubau stehen. Ich möchte meiner Nachfolgerin bzw. meinem Nachfolger eine neustrukturierte und moderne Tanzhochschule übergeben.

Die Internetseite der Palucca Schule: http://www.palucca-schule-dresden.de

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern