Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

Das Mariinsky-Ballett beginnt sein Weihnachtsgastspiel mit einem Balanchine-Abend

oe
Baden-Baden, 22/12/2004

Einen dreifachen Toast auf die gerade aufs neue bekräftigte politische Freundschaft unserer beiden Kumpels, Genosse Gerhard und Gospodin Wladimir! Deren kulturelle Weihnachtsbescherung präsentiert in diesen Tagen eine ganze Woche lang das Mariinsky-Ballett aus Sankt Petersburg samt mitgereistem Orchester im Großen Festspielhaus Baden-Baden, wo die Russen mit vier verschiedenen Programmen auftreten: einem Balanchine-Triptychon, „Schwanensee“ und „Nussknacker“ samt einem Galaabend. Es ist bereits zum fünften Mal, dass die Newa-Kompanie mit vollem Tross an die Oos gereist ist. Keine andere Stadt der Welt kann sich rühmen, eine so kontinuierliche Zusammenarbeit mit den Mariinsky-Erben zu pflegen – und schon ist für den Sommer der nächste Besuch der Kollegen von der Oper angekündigt. Ein Toast also auch auf den Baden-Badener Intendanten Andreas Mölich-Zebhauser als Ermöglicher dieser opulenten Gastspiele.

Los ging es diesmal also mit dem Balanchine-Abend, sozusagen der Heimkehr des verlorenen Sohnes! Denn als Georgi Melitonowitsch Balanchiwadse war der damals gerade Einundzwanzigjährige 1925 von Leningrad aus aufgebrochen, um als George Balanchine die Welt des Balletts zu erobern. Doch nicht wie sein biblischer Urahn ist er als abgerissener und heruntergekommener Streuner in die ehemalige Zarenresidenz zurückgekehrt, sondern 1962 als selbstbewusster Statthalter Terpsichores auf Erden mit seiner Kompanie, dem New York City Ballett, der den Kulturfunktionären, die ihn mit einem „Willkommen in der Heimat des klassischen Balletts!“ begrüßt hatten, schlagfertig antwortete „Russland ist die Heimat des romantischen Balletts, das klassische Ballett ist heute in Amerika zu Hause!“

Von seinem in der westlichen Welt erarbeitetem Vermögen zehren heute die Ballettkompanien aller Kontinente – darunter eben auch das Mariinsky-Ballett, aus dem Balanchine hervorgegangen ist, und das sein Erbe kultiviert. Und, wie es einem derart der Musik verpflichteten Choreografen geziemt, eben auch mit den ihm gemäßen orchestralen Rahmenbedingungen, denn wo sonst treten heute noch große Truppen auf ihren Gastspielen mit eigenem Orchester (hier unter der Leitung von Michail Agrest) auf? Mit den drei Balletten „Die vier Temperamente“ (Hindemith), „La Valse“ (Ravel) und „Ballet Imperial“ (2. Klavierkonzert, B-Dur, von Tschaikowsky) präsentierten die Russen gewissermaßen eine stilistische Balanchine-Retrospektive: von der Anverwandlung der amerikanischen Moderne (Hindemith, 1946), über die Erinnerung an das der Katastrophe des Ersten Weltkriegs entgegenwalzende Europa (Ravel – mit dem genialen Beginn der drei parzenhaften Beschwörerinnen, aus dem sich die Tragödie vom Tod und das Mädchen kristallisiert) bis hin zur nostalgischen Erinnerung an das zaristische Ballett auf dem Höhepunkt seines Petipa-Ruhmes.

Dabei tanzten sich die Russen umso freier, je direkter sie sich ihrer eigenen Vergangenheit annäherten. Mangelte es den amerikanischen „Temperamenten“ noch an Biss, Stromlinienzuschnitt und Säure, so beschworen sie im Walzerinferno (mit Uliana Lopatkina, Vladimir Schischov und Soslan Kulajev) beklemmend die Gewitterstimmung am Vorabend der Oktoberrevolution, um sich dann um so hingebungsvoller in den Fluten der Tschaikowskyschen Orchesterwogen zu verströmen (mit Victoria Terschkina und dem wie ein auferstandener Zarewitsch-Messias die reine Lehre des klassisch-akademischen Tanzes verkündenden Andrian Fadejev). Was ihnen ihre vielen Freunde und Förderer aus der westlichen Welt am dringendsten zukommen lassen sollten, wäre eine Schiffsladung von Spitzenschuhen der Marke Freed, denn mit dem salvenartigen Geknatter ihrer Pas de bourrées zerstören sie mitleidlos die Illusion einer schönen heilen Welt, die sie so erstaunlich unbeschadet über siebzig Jahre kommunistischer Herrschaft hinweggerettet haben.

Kommentare

Noch keine Beiträge