Wiedersehen macht Freude

Nach fünf Jahren längst eine Wegmarke des zeitgenössischen Tanzes: Xavier Le Roy zeigt sein „Self Unfinished“ erstmals in München

München, 03/08/2003

Das Stück ist ein zeitgenössischer Klassiker. Von Brandstetter und Siegmund bis Husemann und Ploebst: Kaum ein namhafter Tanzwissenschaftler, der nicht schon in Essays und ganzen Bücher erklärt hat, warum Xavier Le Roys „Self Unfinished“ eine Initialzündung des zeitgenössischen Tanzes war. Vor fünf Jahren, bei der Premiere in Cottbus, war der promovierte Molekularbiologe aus Frankreich noch ein unbekannter Newcomer. Heute müssen (zu) viele an der Abendkasse des restlos ausverkauften Münchner I-Camp-Theaters ohne Karte abgewiesen werden und versäumen das längst überfällige Münchner Debüt dieses Signaturstücks. Nach einem halben Jahrzehnt erscheint „Self Unfinished“ nun ziemlich „finished“: Der Wahl-Berliner hat die Konturen stechend geschärft, hat sich in seiner Körperstudie gar einen Freiraum zum lustvollen Spiel eingerichtet. In früheren Aufführungen war das Publikum selten so atemlos konzentriert, dann auch wieder so ausgelassen heiter wie nun in München.

Wo Le Roy die klinisch weiße Bühne mit grellen Neonröhren ausleuchtet, zeigt er Tanz in diesem Industrieambiente als Fließbandarbeit, ausgeführt von einer perfekt programmierten Tanzmaschine. Er drückt auf seinen CD-Player, doch Musik hört man keine. Statt dessen summt und fiept der sich bewegende Körperroboter. In Zeitlupe pendelt er rückwärts zwischen Schreibtisch und kauernder Schlafstellung am Boden hinten links. In der folgenden Stunde wird Le Roy seinem Körper aber immer mehr die üblichen Konfigurationen austreiben. Er entschreibt ihn buchstäblich, anstatt ihn als gegebenes Medium einer narrativen oder emotional expressiven Tanzsprache zu nutzen. Längst legendär, wie Le Roy mit seinem blauen Hemd und den Turnschuhen auch jeglichen, in gewohnter Manier abgerichteten Körperhabitus ablegt. Mit Hosen an den Beinen und einem Rock über den Kopf zergliedert sich sein Körper plötzlich in zwei miteinander rangelnde Skulpturen. Gleich einem Knetmännchen aus dem Kinderfernsehen formt Le Roy aus seinen Gliedmaßen und dem Rumpf völlig neue, gänzlich andere Körperflächen. Am Ende ist die Wahrnehmung des Zuschauers umgepolt: Kopfüber ist kopflos, oben und unten macht keinen Sinn mehr, statt einem ganzen Tänzer sieht man kaum benennbare Fleischformen. Der Tänzer wird so allmählich von der Maschine zum fiktiven Bühnen-Organismus, Choreografie zum theatralen Schöpfungsakt, der längst nicht mehr allein Alltägliches in Abstraktion abbildet.

Mit Abstand neu betrachtet, belegt „Self Unfinished“ seinen Status als geistreicher, wegweisender Pionierstreich, den man zweifelsohne noch in Jahrzehnten rekonstruieren wird, wie man heute etwa auf Nijinskys Pariser Arbeiten als Wegmarken der Tanzgeschichte zurückblickt. Indes führt die Distanz auch allmählich vor Augen, dass der zeitgenössische Tanz des 21. Jahrhunderts anno 1998 nicht aus einem Vakuum entstand, sondern Vorlagen gerade aus der avanciertesten Tanztheaterecke, etwa eines Gerhard Bohner, radikal weitergedacht hat.

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