Lulu zwischen Lolita-Sex und Blondie-Trash

Christian Spucks erster Abendfüller beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 05/12/2003

Das hat großen Seltenheitswert: Ein junger Choreograf, der uns was erzählen will. Der auf der Bühne nicht die tatsächlichen oder vermeintlichen Tiefen seiner Seele auslotet, sondern sich das Ziel setzt, den Zuschauern eine Geschichte zu präsentieren, sie verständlich und nachvollziehbar zu machen. Das mag heute altmodisch erscheinen und ist doch nach wie vor das Lebenselixier des Theaters. Christian Spucks abendfüllend-erzählendes Debüt beim Stuttgarter Ballett ist ein beachtliches Beispiel dafür: Der Hauschoreograf der Kompanie stellt sich nicht nur der ohnehin schon großen Herausforderung des Erzählballetts, sondern sucht sie auch anhand einer denkbar kompliziert gestalteten Figur und Geschichte zu bestehen - Frank Wedekinds „Lulu“. Gleich vorweg: Spuck hat die Herausforderung höchst respektabel bestanden.

Berlin, Paris, London: In drei Stationen und Bildern zeigt Spuck seine Lulu als eine Projektion der sie umgebenden Männer. Ein Geschöpf ohne Wurzeln und Halt, das selbst dann, wenn es mit den Männern zu spielen meint, doch nur deren Spielzeug ist. Das einen kurzen sozialen Aufstieg mit dem Sturz in einen bodenlosen Abgrund und die Arme eines Mannes bezahlt, der sie für ein letztes, grausiges Spiel benutzt: Jack the Ripper.

Christian Spuck erzählt das dramaturgisch geschickt und überzeugend, choreografisch flüssig und kurzweilig und oft mit einer Leichtigkeit, die nicht nur angesichts des Sujets, sondern auch deshalb verblüfft, weil sie keineswegs deplaziert erscheint. Keinen Moment lang birgt sie die Gefahr in sich, die Handlung in eine atmosphärische Schieflage zu bringen, sondern wird durch moderne Mittel aufgefangen: Durch Filmeinspielungen, die Lulu als Projektionsfläche männlicher Fantasien zeigen, und vor allem durch die von Schigolch in Englisch vorgetragenen Zitate aus den Polizeiberichten über Jack the Rippers Morde. Das ist ein dramaturgisch glänzender Kniff, der es Spuck am Ende erlaubt, das Grauen des Mordes an Lulu im Kopf des Zuschauers entstehen zu lassen, statt ihn mit Theaterblut zu langweilen.

Den größten Teil seiner Wirkungskraft verdankt das Ballett jedoch Christian Spucks brillanter Musikwahl. Die Stücke von Arnold Schönberg, Alban Berg und, überwiegend, von Dimitri Schostakowitsch unterstützen famos die Geschichte: Von der Walzerseligkeit des ersten Bildes, die der Handlung einen (wenn auch eher wiener- statt berlinerischen) faszinierend morbiden Charme verleiht, bis zum musikalisch wie choreografisch bedrückend-bedrängenden Ende Lulus in der Gewalt ihres Mörders.
Spucks Choreografie ist flüssig, höchst musikalisch und kontrastreich, mitunter auch - im besten Sinne - eklektisch. Sie ist virtuos in den erstaunlich klassischen und an John Crankos Abendfüller erinnernden Corpsszenen, während die Soli in bemerkenswerter Manier die Gemütszustände der Figuren abbilden - und dass insbesondere Lulus Tänze sie zum Ende hin immer stärker als eine Schwester der Giselle von Mats Eks erscheinen lassen, einer anderen Ausgestoßenen der bürgerlichen Gesellschaft, macht durchaus Sinn.

Das höchste spezifische Gewicht erreicht Spucks Choreografie jedoch in den Paar- und Dreiertänzen. Wie weiland Cranko in den „Onegin“-Pas de deux komprimiert Spuck darin meisterhaft die Essenz der Handlung und die Emotionen seiner Figuren. Und er hat grandiose Tänzer, um diese Figuren lebendig zu machen: Durchweg alle Rollen sind erstklassig besetzt, vom diabolischen Schigolch Eric Gauthiers über die elegant-manierierte Gräfin von Geschwitz Bridget Breiners bis hin zu Jack the Ripper in Jiri Jelineks Interpretation, die ungeachtet der Kürze des Auftritts das verstörende Psychogramm eines unter Zwang handelnden Mörders liefert.

Alicia Amatriain aber wird an diesem Abend zum Star: Eine platinblonde Lulu zwischen Lolita-Sex und Blondie-Trash, die mit so überwältigender Präsenz und Hingabe (um nicht zu sagen: Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst) die Leidenschaften ihrer Rolle tanzt, sie geradezu aus ihrem Körper presst, dass der Zuschauer gar nicht anders kann, als von dieser Figur gepackt und mitgerissen zu werden - zu einem einmütigen, fulminanten und verdienten Erfolg für das Ensemble und den Choreografen.

 

Uraufführung: Staatstheater Stuttgart, 5. Dezember 2003, Staatsorchester Stuttgart, Musikalische Leitung: James Tuggle, Bühne: Dirk Becker, Kostüme: Emma Ryott, Licht: Reinhard Traub

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