Die dritte „Nijinsky“-Vorstellung in St. Petersburg

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St. Petersburg, 09/07/2003

Nachmittags hatte eine Aufführung in der Besetzung der Premiere stattgefunden – wie man hört wieder volles Haus, das Publikum offenbar noch wärmer und involvierter als gestern. Es ist ja bereits das zweite Gastspiel der Hamburger hierorts – nach „Peer Gynt“ vor ein paar Jahren – und nach Neumeiers Kreation der „Seiten des Lebens“ (beide Ballette bekanntlich zu Musik von Alfred Schnittke). Ich habe den Eindruck, dass die Leute hier Neumeier mit großem Respekt begegnen, aber es fällt mir schwer, herauszufinden, was sie wirklich denken. Alles ist so total anders als bei uns, die Kontaktaufnahme zu Kollegen ist schwierig, weil so wenige englisch sprechen – und selbst das nur radebrechend.

Es ist eindeutig der Abend Alexandre Riabkos, den alle nur Sascha nennen. Der Junge ist phänomenal – war es auch schon in seinen Auftritten in Hamburg. Doch in diesen zweieinhalb Stunden ist er über sich hinausgewachsen. Was er als Nijinsky über den sehr geschätzten Jiří Bubeníček in die Rolle einbringt, ist sein umwerfender Charme, sein Fluidum – sein, man muss es wohl Charisma nennen. Seine Jugendlichkeit, seine Leichtigkeit und animalische Grazie. Seine unbändige, unwiderstehliche Lust am Tanzen. Und wie er in dieser Rolle wächst, die er so erschreckend jenseitig mit seinem letzten Auftritt in St. Moritz beginnt. Wie er dann aber sofort zurückschaltet in die Unbeschwertheit seiner Anfänge als Pierrot und Harlekin, wo seine Entdeckungsfreude nur so aus seinen Füßen sprüht und seinen Augen blitzt. Wenn er dann zur Eroberung der Luft ansetzt. Wie er dann an Erfahrung wächst – seine Menschlichkeit auch, gerade in der durchaus liebevollen Begegnung mit Diaghilew (der wieder sehr soignierte Carsten Jung). Der Zwiespalt, der aufkeimt in seiner Beziehung zu Romola (die sehr damenhafte, sehr kühle Heather Jurgensen). Wie sie ihn von Grund auf verändert und seine Leidenschaft weckt, deren Zwiespalt er dann nicht mehr bewältigt, der ihn zerstören wird. Ihr großes Pas de deux hat das Elementare eines Urknalls. Man hängt geradezu atemlos an den beiden.

Immer wieder blitzen dann diese bewegenden Momente durch, wo er nicht mehr der viel bewunderte Künstler und das Objekt anderer Begierden sein will, sondern nur noch er selbst, Vaslav, der zärtlich seinen Bruder Stanislav liebt (Yukichi Hattori – so anrührend in seiner schutzbedürftigen Hilflosigkeit). Überwältigt von dem Wahnsinnsterror seiner Kriegsvisionen, hat er noch nicht die schreiende Dämonenfurcht von Bubeníček (die Hamburger Tänzer sind grandios in dieser Szene – wie eine von einer Furie gegeißelte Soldateska). Doch dann gewinnt seine Interpretation eine schier unerträgliche Schwere, wächst er in eine Dimension der Einsamkeit hinüber, in die wir ihm nicht mehr zu folgen vermögen. Ein großer Abend für John Neumeier und seine Hamburger – spannend bis zur Atemlosigkeit. Die Heimkehr Nijinskys nach St. Petersburg alias Alexandre Riabkos!

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