Überschätzen wir John Cranko?

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Stuttgart, 17/01/2002

Anlässlich der Einstudierung von John Crankos „Onegin“ beim Royal Ballet in London heißt es in der sehr detaillierten Kritik von Mary Clarke im Januar-Heft der englischen „Dancing Times“:

„‚Onegin‘ ist ein fein gearbeitetes Stück Tanztheater mit vier glanzvoll kontrastierenden Rollen für Onegin und Tatjana, Lensky und Olga, und einer fünften Rolle, Fürst Gremin, die, wenn mit angemessenem Gewicht gegeben, den dritten Akt erklären und erhellen kann. Im Übrigen gibt es die unvermeidlichen großen Tanznummern, Mazurka, Walzer, Polonaise, zwecks Vielfalt zur Illustration der beiden Party-Szenen, der provinziellen im zweiten Akt und den großen Petersburger Ball im dritten.
Doch wie gut sie auch immer vom Corps de ballet ausgeführt werden, halten sie die Handlung eher auf als dass sie sie förderten. Und eher beschränkt sind die Versuche, die anderen beteiligten Personen zu charakterisieren. Madame Larina ist nichts weiter als eine schöne Mutter und Gastgeberin; die Amme eine Klischeefigur mit torkelndem Gang. ‚Onegin‘ ist jetzt mehr als dreißig Jahre alt und als abendfüllendes, dreiaktiges Handlungsballett meiner Meinung nach durch die Errungenschaften von Kenneth MacMillan übertroffen worden, der in einem größeren Rahmen arbeitet – ‚Manon‘ und ‚Mayerling‘ –, während Frederick Ashton, der niemals sonderlich glücklich war, wenn er sich durch drei Akte hindurchackerte, gezeigt hat, wie effektiv in seinen Händen man durch Kondensierung die Essenz eines Stücks destillieren kann.
In ‚The Dream‘ gab er uns ebenso viel Shakespeare wie in ‚Romeo und Julia‘. Wenn ich an ‚Ein Monat auf dem Lande‘ denke, frage ich mich, ob Cranko nicht besser daran getan hätte, uns die Essenz von Puschkins Geschichte in einem längeren Akt zu geben."

MacMillans „Manon“ und Ashtons „The Dream“ – sind sie wirklich Crankos „Onegin“ überlegen? Ich habe seinerzeit eine eher negative Kritik über die Uraufführung von „Onegin“ anno 1965 geschrieben – meine Meinung aber im Laufe der Jahrzehnte revidieren müssen. Nach wie vor kann ich mich mit den Operettenchargen im Ball bei Larina nicht befreunden und finde die Anwesenheit von Tatjana und Olga in der Duell-Szene unmöglich. Doch was den großen, im dritten Akt kulminierenden dramatischen Sog der Aktion angeht, akkompagniert von der atemberaubenden choreografischen Eskalation, inklusive der glanzvollen Polonaise im dritten Akt, so gebe ich Crankos „Onegin“ allemal den Vorzug vor MacMillans „Manon“-Schmonzette und Ashtons „The Dream“-Destillat – nicht zu reden von Neumeiers „Sommernachtstraum“.

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