Martin Schläpfers „Programm X“

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Mainz, 16/11/2002

Senioren-Nachmittagsvorstellung im Kleinen Haus. Erfreulich aufgeschlossenes Publikum – mit nur ein paar Abgängen in der Pause. Martin Schläpfer hat Mainz ballett-, na ja: nicht -verrückt gemacht, aber doch dafür gesorgt, dass die Stadt plötzlich entdeckt hat, wie aufregend Ballett sein kann! Leider immer noch diese unseligen Titelankündigungen: „Programm X“ also diesmal (Mainzer Bürgerin zu Ihrer Nachbarin: Fanden Sie auch „Programm IX“ so toll? – Nein habe ich nicht gesehen, bin aber schon richtig gespannt auf „Programm XI“, denn da will er ja mal ein „richtiges“ Ballett machen!). In der Pause berichtet Schläpfer, dass er sich als nächstes den „Feuervogel“ vorgenommen hat. Und Berlin? Derzeit kein Thema für ihn! Immerhin hat „Programm X“ einen Untertitel: „Kunst der Fuge“.

Kann man, soll man BWV 1080 tanzen? Amanda Miller meinte in Freiburg: ja – Schläpfer in Mainz schloss sich ihr an und hat seinen Entschluss im Programmheft ausführlich begründet. Ich konnte bisher ganz gut ohne leben – und kann es auch in Zukunft. Ich bin der Meinung, dass diese Musik ein so hohes Maß an Hörkonzentration erfordert, dass jedes zusätzliche Element nur von ihr ablenkt. Sie zum bloßen Klangenvironment zu degradieren, dafür ist sie mir indessen zu schade.

Ich muss aber zugeben, dass ich den 21 Fugen und Kanons gebannt zugesehen habe. Schläpfer lässt sie vom Band in unterschiedlichen Bearbeitungen erklingen (Klavier, Cembalo, Streichquartett, Saxophon Quartett, Blockflöten ...) und choreografiert dazu Soli und Ensembles in diversen Besetzungen. Die Bühne ist ein Halbrund mit Farbstreifen (Thomas Ziegler – auch Lichtkonzeption), keinerlei Requisiten – Firlefanzkostüme mit einem Stich ins Kitschige von Catherine Voeffre, meist barfuß, aber auch in Schläppchen, Spitzenschuhen und High Heels. Die zweimal zehn Tänzer können sich durchaus individuell profilieren – nicht nur die Japanerin Yuko Kato mit ihrer verfremdenden Geisha-Maske – sehr markant auch Nick Hobbs und Jörg Weinöhl, aber dann müsste man sie alle eigentlich einzeln nennen: Bogdan Nicula, Julie Thirault, Lauren Brunn, Martucia do Amaral, Guido Wallner, Igor Mamonov und ... und ... und ...

Sie sind gut anzusehen und wären noch besser anzusehen ohne diese grässlichen Chichi-Kostüme. Sie tanzen mit großer, gespannter Konzentration, sehr diszipliniert, kraftvoll-energiegeladen und, wo es angebracht ist, in bestens aufeinander abgestimmter Uniformität. Schläpfer gibt nicht vor, die Musik zu interpretieren – und auch nicht, wie etwa Balanchine in „Concerto Barocco“, in den Raum zu projizieren, aber auch nicht wie Cunningham sich unabhängig von ihr zu verhalten. Zumindest beschädigt er sie nicht – doch wenn er die Musik austauschte und etwa die Choreografie zum Contrapunctus 5 zum Contrapunctus 10 tanzen ließe, dann würde das wohl außer ihm und den Tänzern niemand merken. Und das ist mir bei dieser Musik zu wenig.

Er choreografiert also tänzerische Bilder – sehr abwechslungsreich, überaus phantasievoll, ohne konkrete anekdotische Inhalte, manchmal leicht humoristisch pointiert (eine Model-Parade auf dem Laufsteg, ein urkomischer Watschelgang dreier Männer), pfiffige Kontraste (Kirsty Ross tanzend vor Weinöhl, Hobbs und Helge Freiberg, die alle nackt, aber man sieht sie nur von hinten, in die Bühnentiefe schreiten), erfindet laufend neue skulpturale Paarkombinationen, arbeitet viel mit komplementären Arrangements, liebt pfeilgeschnellte Sprünge, setzt pirouettenartige Rotationen als besonderen Akzent ein, verfügt über ein sehr breites Bewegungsvokabular.

Würde ich mir, so ich in Mainz oder Umgebung lebte, trotz meiner musikalischen Vorbehalte gern noch ein zweites Mal ansehen.

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