John Neumeier choreografiert „“Die Möwe“

oe
Hamburg, 18/06/2002

Die Secondière von John Neumeiers jüngster Kreation „Die Möwe“, frei nach Anton Tschechow – vor einem atemlos gebannt zusehenden Publikum. Nicht sklavisch der Tschechowschen Dramaturgie folgend, sondern hinter den Worten deren Seele nachspürend – und man weiß ja: die russische Seele tanzt, immer am Abgrund entlang, immer vom Absturz bedroht – wie die Möwe, die als Papierflieger durch das ganze Zweieinhalb-Stunden-Ballett fliegt, für das Neumeier auch als Ausstatter verantwortlich zeichnet. Mit Markus Lehtinen als Dirigent, der dem Philharmonischen Staatsorchester die wunderlichsten Klänge entlockt – als ob Schostakowitsch, Tschaikowsky und Skrjabin und auch die wild entfesselte Evelyn Glennie ihre Musik eigens für dieses Ballett komponiert hätten.

Die Figuren, die bei Tschechow alle vom Theater träumen, vom Schauspieltheater, hat Neumeier in Tänzer und Choreografen verwandelt (von der Liebe träumen sie natürlich sowieso). Das ermöglicht ihm, ständig die choreografische Perspektive zu wechseln: von dem leicht ironischen Rückblick auf die Petipa-Ära bis zu den sowjetischen Theaterrevolutionären um Goleisowsky, Tairoff und Meyerhold - mit einem Abstecher bei den Moskauer Nachtclubrevuen der tollen Zwanziger, den Moskwa Folies sozusagen. Das ergibt ein ungeheuer breites und reiches choreografisches Spektrum mit dem Leitmotiv des gebrochenen Möwenflugs.

Und ein Rollenrepertoire der subtilst gezeichneten Charaktere; Anna Polikarpova hier nun als alternde Primballerina alias Pawlowa rediviva, Otto Bubeníček als Trigorin, Hallodri und Choreogaf der Petipa-Generation, Ivan Urban als Kostja, der lebensuntüchtige Sohn der Arkadina mit dem Traum vom Ballett der Zukunft und Joelle Boulogne als Mascha, die Ballerina in spe, die Möwe, die fliegen möchte aus diesem provinziellen Ennui, und die schließlich bei der Nachtclub-Revue in Moskau landet. Und um sie herum dieses Ensemble wunderbarster Charaktertänzer, dieser Lloyd Riggins, Sébastien Thill, Peter Dingle, Yaroslav Ivanenko, Nurka Moredo und Joelle Bourgnon ... sie alle Russen, so ungeheuer idealistisch, so wunderbar phantasievoll, sie alle träumen von einem besseren, schöneren Leben, und sie alle leiden an der Miserabilität ihres Daseins – bis auf den heutigen Tag.

„Die Möwe“, das ist das Chef d‘oeuvre des nun sechzigjährigen John Neumeier geworden – nach „Nijinsky“ der zweite Teil seiner Russen-Trilogie. And what next? Gogols „Revisor“ als Satyrspiel, Tolstois „Anna Karenina“ als russische Antwort auf die französische „Kameliendame“, Leskows „Lady Macbeth von Mzensk“? Welche Aussichten!

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