Der neue Leipziger Ballettabend

oe
Stuttgart, 12/03/2002

Nein, ich war nicht in Leipzig und habe den neuen Ballettabend „Hommage à Balanchine“ nicht gesehen. Aber nachdem ich gestern im Internet vergeblich nach der Premierenkritik in der Leipziger Volkszeitung gefahndet habe, ist sie mir heute zugefaxt worden – und ich muss sagen, mich hat fast der Schlag getroffen. Nicht etwa, weil sie negativ ausgefallen wäre – der Autor bestätigt immerhin der „fabelhaften Ballettcompagnie ... einen schönen Erfolg“.

Aber wie er dann den Ablauf des Programms und der Vorstellung beschreibt, verrät eine derartige Insensibilität und einen derartigen Mangel an historischen Kenntnissen und an internationaler Perspektive, dass ich nur sagen kann: Armer Uwe Scholz, wozu hast Du eigentlich zehn Jahre lang in einer der größten, vitalsten und kulturbeflissensten Städte Deutschlands geschuftet, wenn in der meinungsbildenden größten Tageszeitung am Ort eine derart ahnungs- und verständnislose Kritik erscheinen kann.

Auf dem Programm drei Ballette von Balanchine, deren jedes einzelne zu erwerben jeder Ballettkompanie der Welt zur Ehre gereicht. Und Leipzig präsentiert deren gleich drei. Allein den Balanchine Trust dazu zu überreden, sie Leipzig zu überlassen, ist schon ein diplomatisches Kunststück ersten Ranges – und eine Art Adelsprädikat für die Kompanie. Drei Ballette also: „Apollo“ (1928), „Vier Temperamente“ (1946) und die „Vertanzung von Bizets ‚Symponie in C‘“ – und wie bewertet der Kritiker sie? Da muss es sich wohl um einen Druckfehler halten – oder ist mein Faxgerät etwa nicht in Ordnung: „Hornalte Schinken mithin“.

Selbst wenn damit „uralte“ gemeint sein soll – die Klassifizierung spricht für sich! Das ist also der „Humus, in den auch Scholz seine Wurzeln schlug. Natürlich ist er moderner, ist sein Umgang mit der Musik vertrauter, intimer, sind seine Arbeiten Übersetzung, während Balanchine es hier und da bei der Verzierung belässt“. Ich hoffe, Scholz hat diesen Vergleich kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen.

Nur noch ein paar Beispiele: „Sebastian Angermaier ... lässt als Apoll die Musen vorbeidefilieren, macht eigentlich nichts ... Dieser ‚Apollo‘ ist hinreißend kitschig, er ist poetisch, ein wenig ironisch – kurzum wunderbar“. Bei den „Vier Temperamenten“ weiß ich nicht recht, ob sich das „professional“ auf das Orchester oder auf die Choreografie bezieht, aber begeistert scheint dieses Ballett den Rezensenten nicht gerade zu haben: „... kaum ein Funke, an dem sich beispielsweise die hinreißende Séverine Ferrolier als Cholerikerin entzünden könnte“. „Eher ratlos entlässt das dekorative Kunstgewerbe der ‚Sinfonie in C‘“ (jawohl, jetzt ist aus der Symphonie plötzlich eine Sinfonie geworden, kj).

Aber so richtig scheint der Funke nicht übergesprungen zu sein. Es könnte damit zusammenhängen, dass diese Arbeit, obgleich die jüngste des Abends, am ehesten ihr Verfallsdatum überschritten hat. Da ist Scholz mit seinem tiefen Blick in die Partituren der Musik in der Tat erheblich näher. Voilà! Armer Uwe Scholz – mit einem solchen Niveau von Ballettkritik leben zu müssen! Das haben weder Balanchine noch Scholz und auch die Leser der Leipziger Volkszeitung nicht verdient!

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