Das Ereignis kommt aus dem Orchestergraben

Ludwigsburg, 09/09/2002

Das ganz große Theaterereignis, als das sie angekündigt wurde, ist diese Produktion der „West Side Story“ des Landestheaters Linz denn doch nicht geworden. Bei ihrem Gastspiel bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen im Forum-Theater erwies sie sich vielmehr als eine szenisch durchschnittliche, aber musikalisch höchstklassige Aufführung. Das liegt vor allem daran, dass dieses Musical von Arthur Laurents nach William Shakespeares „Romeo und Julia“ mit der Musik von Leonard Bernstein durch die Premiereninszenierung von Jerome Robbins im Jahre 1957 derart letztgültig geprägt worden ist, dass allen seinen Nachfolgern nur das Kopieren übrig bleibt.

Auch die Linzer Regie von Matthias Davids und die sehr gelungene, vergitterte Hinterhof-Ausstattung von Knut Hetzer orientieren sich, abgesehen von einigen Veränderungen der Spielorte und Straffungen der Besetzung, Szene für Szene an ihrer übermächtigen Vorlage, sind also nichts weniger als überraschend. Das gilt auch für die Choreografie von Melissa King, die sich wohl vor allem darauf konzentriert hat, Robbins' Tänze auf die Fähigkeiten ihrer Truppe zu reduzieren. Dennoch sind es gerade die Interpreten der Nebenrollen und das Corps, die dem Stück szenischen Drive und wirkliches Leben verleihen. Sie sind so aggressiv, individuell und spielfreudig, wie man sich das nur wünschen kann, ihre Tänze haben Kraft und Tempo – sie sind ohne Frage eine der beiden tragenden Säulen des Abends.

Freilich können sie den großen Tanz- und Gesangsszenen des Stücks, wie „Keep cool“, „Mambo“ und „America“, nicht ganz jenen mitreißenden Aplomb verleihen, dessen sie unbedingt bedürfen. Dafür sind die Kampfaktionen lebendig und virtuos. Die drei Schwachstellen dieser „West Side Story“ sind ihre drei Hauptdarsteller – dröge, steif und unnatürlich. Wenn sich Maria (Arantxa Armentia) und Tony (Thomas Scharr) erstmals auf dem Tanzboden begegnen, dann ist das eher belanglos als elektrisierend oder gar dramatisch. Während dem Publikum in dieser brisanten Situation eigentlich der Atem stocken müsste, bleibt ihm hier nur, das Eintreten des Erwarteten zu registrieren. Das ändert sich auch im Verlaufe der Handlung nicht. Überdies ist der zu opernhafte Gesang der beiden nicht gerade überwältigend.

Und die heimliche Hauptrolle der Anita hat in Tracy Plester eine ganz und gar unauffällige und nichts weniger als latino-temperamentvolle Interpretin gefunden, die ihrer Partie beinahe alles schuldig bleibt, was sie eigentlich zum Liebling des Publikums machen müsste. Was auf der Bühne zu sehen ist, das entspricht also weitgehend dem, mit Ausreißern nach oben und unten, was von einem Theater diesen Zuschnitts erwartet werden kann.

Das Ereignis findet im Orchestergraben statt. Dort dirigiert nämlich Dennis Russell Davies, Stuttgarts einstiger und noch immer unvergessener Generalmusikdirektor, der jetzt Opernchef in Linz ist. Er und sein kleines Orchester fachen Bernsteins geniale Kompositionen zu einem Flächenbrand an, der die Handlung auf der Bühne wie ein loderndes Feuer begleitet. So scharf akzentuiert, so unnachgiebig ihre Rhythmen in die Luft stampfend sind diese berühmten Stücke selten zu hören. Das swingt und singt, als ob wir mitten in den Fünfzigern wären. Linz goes Broadway. Phänomenal!

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