Crankos „Onegin“ beim Royal Ballet in London

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Stuttgart, 10/04/2002

Am 22. November 2001 hatte John Crankos „Onegin“, einstudiert von Reid Anderson, Premiere beim Royal Ballet in London – es war bereits die zweite englische Einstudierung nach der Produktion, die das English National Ballet während der achtziger Jahre ein paar Spielzeiten lang im Repertoire hatte. Erst jetzt sind im Frühjahrsheft der Vierteljahreszeitschrift „dance now“, die David Leonard und Allen Robertson bei den Dance Books herausgeben, zwei Artikel darüber erschienen, die zu lesen ich nur jedem empfehlen kann, der sich für „Onegin“ interessiert.

Ich meine in all den Jahren seit der Uraufführung 1965 in Stuttgart ziemlich viel über „Onegin“ gelesen zu haben – gleichwohl konfrontierte die Kritik von Debra Craine, „A Perfect Fit“ mich mit vielen Fakten, die ich bisher noch kaum realisiert hatte. Dazu ein paar Beispiele! Da ist einmal die staunenswerte Anzahl der Produktionen – und die Liste ist nicht vollständig: Stuttgart, München, Hamburg, Berlin, Mailand, Sydney, Kopenhagen, Oslo, Toronto, Tel Aviv, ABT und Amsterdam (die Tantiemen hätte ich gern kassiert). Dann die Beobachtung, dass es überwiegend reife Ballerinen waren, die nach Marcia Haydée (bei der Uraufführung ganze 28 Jahre), mit der Rolle der Tatjana ihre Laufbahn gekrönt haben: Patricia Ruanne 38, Natalia Makarova 44, Lynn Seymour 47, Jekaterina Maximowa 50 – kein Wunder, dass Margaret Illmann todunglücklich war (und ist), als man ihr die Zugehörigkeit zu diesem elitären Zirkel verweigerte.

Weiter kann ich nur staunen, mit welcher Akribie Parry die Darstellung der Rollen durch die diversen Besetzungen analysiert. Ganz besonders gefreut habe ich mich über die Würdigung, die Robert Tewsley erfahren hat, der sich als Onegin offenbar das Eintrittsbillett bei der Kompanie ertanzt hat, die in Zukunft seine künstlerische Heimat sein wird. Über seine Partnerschaft mit Mara Galeazzi heißt es da: „Sie waren das am meisten erwachsene und bei weitem das sexieste Paar ... Tewsley, ausgebildet an der Royal Ballet School und geformt beim National Ballet of Canada, ist eine Klasse für sich, ein blondes Matinee-Idol, dessen Aussehen garantiert, dass er die Köpfe verdreht, sobald er auftritt ... Er ist ein Tänzer von unbedingter Qualität, liebevoll im lyrischen englischen Stil ausgebildet ... Männer wie er sind wirklich schwer zu finden.“ Wow!

Dann ist da aber noch ein zweiter Artikel „Time Warp - From Pushkin to Cranko“ von Luke Jennings, und den finde ich noch viel erstaunlicher. Der setzt sich detailliert – auch kritisch – mit den Veränderungen auseinander, die Cranko in seiner Bearbeitung des Puschkinschen Originals vorgenommen hat. Er geht dabei davon aus, dass der Titel eigentlich „Tatjana“ lauten müsste, denn sie ist es, die dieses Ballett eindeutig dominiert. Er vermutet, dass diese Ungleichgewichtigkeit wohl austariert worden wäre, wenn, wie ursprünglich von ihm geplant, Fonteyn und Nurejew die beiden Hauptrollen beim Royal Ballet kreiert hätten.

Und dann präsentiert er eine Hypothese, die ich so auch noch nirgends gelesen habe. Sie bezieht sich darauf, „dass Cranko als ein schwuler Mann, in der repressiven Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre lebte. Wie Frederick Ashton. Cranko schuf seine Heroinen als verschlüsselte Versionen seiner selbst. In ihren Leiden, Dilemmata und geheimen Sehnsüchten spiegelten sich die eigenen des Choreografen ... Seine Empathie mit Tatjana ist evident in jedem Schritt und ganz besonders in den zornerfüllten und sinnlichen Konfrontationen der beiden großen Pas de deux. Crankos Faszination für Tatjana und ihre Situation wird gekontert durch sein klares Desinteresse an den anderen Elementen des Balletts. Abgesehen von den großen Duetten, die makellos entworfen sind, ist die Choreografie banal und die zweitrangigen Charaktere sind skizzenhaft bis zur Karikatur“ (damit sind weniger Olga und Lensky als die anderen Personen und vor allem die Ballgesellschaft bei Larina gemeint).



Ach hätten wir doch eine deutsche Zeitschrift wie dieses englische "dance now"! Aber wir wollen nicht unbescheiden sein, denn dafür haben wir ja "Europe´s leading dance magazine"!

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