CHAT-Projekt

Tanzprojekt mit jugendlichen Tänzern aus Kolumbien, Hamburg und Angers

Hamburg, 31/10/2002

„Am Anfang war ein Fluss. Der Fluss wurde zur Straße und verzweigte sich über die ganze Welt.“ Im Lotussitz beginnt Sebastien Ly mit diesen Zeilen aus Ben Okris preisgekröntem Roman „Die ausgehungerte Straße“ sein Solo. Der zierliche Frankovietnamese erhebt sich, zieht im Tanz eine kreisrunde Bahn und endet genau dort, wo er begonnen hat: Vorm leeren Holzrahmen an der Rampe. Aus subtil akzentuierten Bewegungslinien zeichnet der Student am Centre National de Danse Contemporaine (CNDC) in Angers eine abstrakte Körperkalligrafie, ein vollendet harmonisches Bild vom Erden- oder Lebenskreis in den Raum.

Vierundvierzig jugendliche Tänzer aus Kolumbien, Hamburg und Angers (CHAT) erarbeiten seit vier Wochen auf Kampnagel das CHAT-Projekt unter der Leitung von Alvarao Restrepo und der CNDC-Dozentin Marie Fance Delieuvin. Sie präsentieren als Uraufführung die kurzen Solo-, Duo- und Gruppenchoreografien, die Delieuvin und der kolumbianische Choreograf thematisch den vier Elementen zuordneten.

Zur Einstimmung zeigen Franzosen und Kolumbianer die im Kooperationsprogramm mit Restrepo entstandenen Tanzstücke „Die Seele der Dinge“ und „A Dieu, la mer“. Am Anfang des CHAT-Projekts stand das Improvisieren: Jeder Teilnehmer bekam von Restrepo einen kleinen Bilderrahmen und den kurzen Auszug aus Okris im Jahre 1991 erschienenem Buch. Der mystische Text des in London lebenden nigerianischen Dichters und Romanciers beschreibt auch das „Land allen Werdens“, in dem sich gestorbene Seelen und Ungeborene mischen. Keiner freut sich auf die Geburt. „Wir fürchteten die Herzlosigkeit der Menschen. Alle werden blind geboren, nur wenige lernen zu sehen.“ Der Kolumbianer Alberto hat sich den Kopf verhüllt für ein Duo mit dem Tunesier Hamsa. Ein Experiment auf der Probe: Die beiden tanzen erstmals ihre allein entworfenen Stücke zusammen. Es wirkt, als wäre es nie anders gewesen. Ein Ziel von Restrepos internationalem Projekt ist die Kommunikation. „Trotz des babylonischen Sprachgewirrs klappt die Verständigung hervorragend – vor allem über die Arbeit mit dem Körper.“

Unter den jungen Leuten aus Belgien, Italien, Spanien, Frankreich, Madagaskar, Israel, Kolumbien, Korea und Vietnam sind auch zwölf Deutsche: Studenten aus John Neumeiers Ballettzentrum und der Lola Rogge Schule, aber auch ein schlacksiger Jungschauspieler. „Das CHAT-Projekt soll hauptsächlich Erfahrung erweitern“, erklärt Restrepo. „Es ist ein offenes Labor, dessen Ziel nicht die Aufführungen sind. Sie haben eher den Charakter eines gemeinsamen Spiels, in das sich jeder nach seinen Talenten einbringt.“

Delieuvin berichtet von ersten Konsequenzen ihrer langjährigen Kooperation mit dem Choreografen und Leiter des „Colegio del Cuerpo“ in Cartagena de Indias. „Wir haben in Angers unser Konzept geöffnet. Afrikaner ohne akademische Tanzkenntnisse hatten bisher kaum Chancen. Wir haben uns gefragt: Wollen wir eine Schule für zeitgenössischen Tanz oder eine zeitgenössische Tanzschule sein, kulturelle Kolonisation betreiben oder einen kreativen Beitrag durch gleichberechtigten Austausch leisten? Wie wir jetzt arbeiten, könnte es auch die Welt tun.“

CHAT-Projekt vom 1. bis 3. 11. in der Kampnagelfabrik

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern