Tanz Palucca! Die Biografie

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Stuttgart, 02/11/2001

Ein paar Monate nach Katja Erdmann-Rajkis „Gret Palucca - Tanz und Zeiterfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik“ (siehe koeglerjournal vom 11. April) nun also Ralf Stabels „Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft“ – auf dem Schutzumschlag noch als „Die Biografie“ annonciert, auf der Titelseite heißt es dann nur noch Biografie – erschienen bei Henschel, Berlin, 320 Seiten, 100 s/w Abbildungen, DM 48.-).

Stabel, Jahrgang 1965, Doktor und Professor, ist Tanzkritiker, unterrichtet Tanzdramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und lehrt als Tanzwissenschaftler an der Palucca Schule Dresden. Man darf ihn wohl als die Autorität in Sachen Palucca bezeichnen – sein Werkverzeichnis weist vor seinem neuen Buch bereits vier Palucca-Titel aus, dazu (zusammen mit Angela Rannow) eine Publikation über „Mary Wigman in Leipzig“, außerdem fungiert er als Herausgeber von „Kreativität im Tanz, Beiträge und Diskussionen zur Geschichte und Methode“, Tanzwissenschaft e.V. Dresden. Sein jetzt erschienenes Buch ist denn auch in das Veranstaltungsprogramm der Palucca Schule Dresden anlässlich des bevorstehenden hundertsten Geburtstags von Palucca am 8. Januar 2001 aufgenommen worden.

Es ist flüssig geschrieben, liest sich leicht, ist mit vielen Anekdoten gewürzt, bietet eine Menge von bisher kaum bekannten Fakten und entwirrt, soweit das überhaupt möglich ist, die Verstrickungen Paluccas in die Machtspiele der Nazis und der DDR-Funktionäre. Den Titelanspruch löst es durch eine Unmenge von Kritiker-Zitaten aus Paluccas Karriere als Tänzerin ein – man wird da richtig neidisch, wieviel Platz die damaligen Feuilletonchefs der Tanzberichterstattung eingeräumt haben und kriegt einen ungeheuren Respekt, mit welch einer Genauigkeit die damaligen Kritiker die Tänze Paluccas beschrieben und sich ihre Gedanken über ihre künstlerische Entwicklung gemacht haben.

Stabels Zettelkasten scheint in der Tat unerschöpflich zu sein. Auch was dann den zweiten Teil ihrer Karriere als Leiterin ihrer Dresdner Schule und Pädagogin betrifft, deren Selbständigkeit gegen alle kulturpolitischen Anmaßungen und Zumutungen sie mit Zähnen und Klauen verteidigte, schildert Stabel mit bewundernswerter Gründlichkeit. Bei aller unvermeidlichen Anpassung an die politischen Verhältnisse (es sei denn, sie wäre ausgewandert): Vereinnahmen lassen hat sie sich nicht, weder von den Nazis noch von den DDR-Bonzen, und in brenzligen Situationen wiederholt ein gehöriges Maß an zäher Zivilcourage bewiesen.

Was bei Stabel ganz deutlich wird, ist, wie sehr Palucca an ihrer eigenen Legende gewoben und so dafür gesorgt hat, dass es viele Leerstellen in ihrer Biografie gibt, besonders ihr Privatleben betreffend. So erfahren wir kaum etwas über ihre Ehe, außer dass ihr Mann anfangs (aber wie lange?) ihr sehr cleverer Publicity-Manager war. Etwas mehr hätten wir auch gern gewusst über ihre Kinderjahre, dann über ihre Beziehungen zu den Künstlern des Bauhauses, schließlich über ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen von 1936, auch über ihre Aktivitäten beim sogenannten Tänzerlager von Rangsdorf und als Dozentin an den Berliner Meisterwerkstätten für Tanz sowie in der DDR dann als Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Dresden und der Berliner Akademie der Künste.

Auch wie sie im Dritten Reich ihre bis dahin kaum wahrgenommene Stigmatisierung als Halbjüdin verarbeitet hat, gehört zu den Blindstellen in ihrer Biografie. So wird es DIE Biografie über Palucca wohl nie geben – es sei denn, dass ein mit allen Methoden des investigativen Journalismus vertrauter Autor sich dieses Themas annimmt – das aber traue ich keinem mir bekannten deutschen Tanzpublizisten zu (kj eingeschlossen).

Wer aber Palucca als Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts zu begreifen versucht, wird nicht auf die zusätzliche Lektüre von Erdmann-Rajskis Buch über Palucca auskommen können, das nicht nur ihre Tänze methodisch-wissenschaftlich analysiert (wogegen sich Palucca ihr Leben lang gesträubt hat, sich immer darauf berufend, dass der Schlüssel zu ihrem Verständnis die Improvisation sei), sondern sie als eine Persönlichkeit darstellt, die von den unterschiedlichsten und widersprüchlichsten soziokulturellen Erscheinungen dieses Jahrhunderts geprägt wurde – als Deutsche geboren im Kaiserreich, als eine der glanzvollsten Erscheinungen des deutschen Ausdruckstanzes in der Weimarer Republik, als generationsübergreifende Leiterin ihrer Schule und Pädagogin des Neuen Künstlerischen Tanzes in den schwierigen Jahrzehnten unter zwei verschiedenen (und sich in mancher Beziehung doch verblüffend ähnlichen) politischen Diktaturen und schließlich in ihren allerletzten Lebensjahren als Trägerin des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland.

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