Mark McClains erster Abend am Mannheimer Nationaltheater

Schon ein gutes Repertoirestück

Mannheim, 03/11/2001

Das muss man sich einmal vorstellen: Mitte August macht Mark McClain in seiner Heimatstadt New York Urlaub. Dort erhält er einen Anruf des Mannheimer Nationaltheaters, ob er sich vorstellen könne, sofort Nachfolger des bisherigen Ballettdirektors Philippe Talard zu werden, mit dem das Haus seinerzeit in einem Arbeitsgerichtsverfahren zerstritten war. McClain sagt zu, obwohl die Mannheimer Tänzer noch in den Ferien sind und er sie kaum kennt. Nur zehn Wochen später bringt der ehemalige Stuttgarter Tanzstar im Mannheimer Schauspielhaus unter dem Titel „Auftakt“ eine Premiere mit Uraufführungen von drei Choreografen heraus. Um ein Haar wären es sogar vier geworden.

Fürwahr eine Meisterleistung. Selbst wenn dieses Programm keine dramaturgische Klammer hat, außer vielleicht jener, möglichst unterschiedliche Stücke und Stile zu zeigen, und es auch sicher nicht durchweg dem Niveau entspricht, das McClain im Laufe der kommenden Jahre hoffentlich zu erreichen trachtet. Das mit großem Abstand beste Stück des Abends sind die „Bedtime Stories“ der inzwischen renommierten Engländerin Jean Renshaw. Sie hat eigens für Mannheim ein so bedrückendes wie rührendes, autobiografisches Gedicht über ihre offenbar bösen Kindheitserfahrungen geschrieben, das eine einzige Bitte um Nähe ist. Zur sanften Musik des zweiten Streichquartetts von Gavin Bryars lässt Renshaw im Gitterzaunlicht von Andreas Reinfeld drei Paare den emotionalen Inhalt dieses Gedichtes tanzen.

Das ist eine sehr ruhige, gleitende Choreografie aus Angst und Sehnsucht, in der sich die Menschen zugleich umklammern und ihre Partner fortschieben, um sie im nächsten Augenblick wieder zu suchen. Die Herren heben die Damen, als würden sie ihnen Trost spenden und durch ihre Körper beschützt werden. Vor allem das Hauptpaar, Mami Hata und Rafael Valdivieso, ist von einer ungemein menschlichen und zärtlichen Aura umgeben. Mit ihrer subtilen, auf alle äußerlichen und deklamierenden Effekte verzichtenden Bewegungssprache hat die Choreografin ein bemerkenswertes und sehr individuelles Werk geschaffen, das auch die Qualitäten der Mannheimer Tänzer in bestem Licht erscheinen lässt. McClain hat sein erstes neues Repertoirestück.

Ivan Cavallari, der gerade erst das Stuttgarter Ballett verlassen hat, steuerte das nur etwa zehn Minuten lange „Schiffbrüchige“ bei. Merkwürdiger Zufall: Während Jean Renshaw ihre Damen in eine Art schwarzer Mieder mit Frackschößen gesteckt hat, tut das Cavallari mit seinen Tänzern ebenfalls, nur sind seine Kostüme weiß. Martine Reyn und Enrique Gasa Valga, sowie Wendy Williams Tornes und Gary Joplin tanzen zum leisen Rauschen des Meeres und zur Streichermusik von „Raffaello il Naufragio“ anfangs harmonisch, während sie durch einen schmalen Schleier miteinander verbunden sind. Diese Bindung ist etwas hinderlich, die Herren schauen auch bald zunehmend desinteressierter drein – plötzlich sind sie weg. Zurück bleiben die Damen, die vergebens mit den leeren Fräcken nach einem neuen Fang fischen. So schnell kann das gehen. Das Stück würde sich wahrscheinlich in einem Noverre-Workshop besser machen.

Felipe Lizon, der auch schon zwei Werke für Stuttgart geschaffen hat – damals noch als Philippe – dort aber vor allem als Einstudierer von Béjart-Balletten ein Begriff ist, hat mit seinem dreiviertelstündigen „S.O.S. El Amor“ eine Arbeit abgeliefert, die eigentlich nur unter diesen besonderen Notnagel-Umständen akzeptabel ist. Er lässt, mit dem Ballettdirektor selbst als Conférencier, elf Damen und Herren zu einer Collage aus Tango, Jazz, Blues und Walzer in vermeintlich heiteren Szenen Musik und Liebe verulken, was mit der auf die Straße gesetzten Mami Hata recht hoffnungsvoll beginnt, dann aber zusehends an Einfallsmangel leidet und schließlich in Plattitüden-Langeweile mündet. McClains eigenes „ladies and gents“, das ursprünglich auch noch uraufgeführt werden sollte, hat es, verständlicher Gründe wegen, nicht ganz auf die Bühne geschafft und wird nun am 23. November gegen eines der Werke des Programms getauscht und Premiere haben. Im Laufe der Spielzeit soll diese Stücke-Rotation reihum beibehalten werden. An Energie mangelt es dem „neuen“ Mannheimer Ballett jedenfalls nicht und an engagierten Tänzern, wie diese Premiere gezeigt hat, erst recht nicht.

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