Ballettabend: Vier Stücke von Hans van Manen

Die Gefahr tollkühn negierend

Stuttgart, 03/11/2001

Welch eine Fülle feinster Nuancen, brillantester Ideen, tänzerischer Aperçus und choreografischer Kraft! Am zweiten Abend seines Jubiläumsfestivals präsentierte das Stuttgarter Ballett vier Werke des niederländischen Altmeisters Hans van Manen, dem es stets so außerordentlich verbunden war. Noch immer hat wohl keine andere deutsche Truppe mehr Stücke van Manens in ihrem Programm als die Stuttgarter. Erstaunlich, beobachten zu können, wie sehr dieser Choreograf in jedem seiner Ballette seine unverkennbar individuelle Bewegungssprache verwendet und doch immer wieder ganz neue, ganz andere Geschichten über sein Lieblingsthema erzählt – die Beziehungen der Geschlechter zueinander, die bei ihm oft so unvergleichlich skurril und natürlich zugleich anmuten.

Mindestens ebenso erstaunlich auch, wie sehr van Manen im Laufe seines Wirkens daran mitgewirkt hat, unser aller Moral wenigstens etwas gerade zu rücken. Welchen Skandal hätte zum Beispiel noch vor wenigen Jahren das Finale seines fragilen „Kleines Requiem“ zur gleichnamigen Musik von Henryk Górecki gemacht, in dem sich die Partnerschaft zweier Männer, hier die feinnervig agierenden Filip Barankiewicz und Ibrahim Önal, als ganz natürliche Alternative erweist, selbst wenn sie am Ende zerbricht! Überhaupt wird das Stück auch von Julia Krämer, Bridget Breiner, Roberta Fernandes, Dimitri Magitov und Robert Conn wie auf dünnstem Glas getanzt – eine Welt der ängstlichen Vorsicht und Empfindsamkeit, der man atemlos zuschaut, ohne ihr eigentliches Wesen zu ergründen.

„Twilight“, für dessen Stuttgarter Erstaufführung der Besetzungszettel gleich mehrere Daten anbietet, wir entscheiden uns für 1982, wurde zum Höhepunkt des Abends. Das ist noch immer ein faszinierender Fight auf Biegen und Brechen, den Bridget Breiner und der kurzfristig für den verletzten Roland Vogel eingesprungene Douglas Lee ausfechten. Wie sie federnd wie eine Damaszenerklinge den Mann umkreist, ihn mit ihren Blicken belauert, immer erregter wird, wie er scheinbar nachgibt, dann nachsetzt, sie allmählich kirre macht, Crankos „Zähmung“ fällt einem ein, bis sich beide, als sie schließlich ihre Stöckelschuhe auszieht und sich mit ihm auf eine Stufe stellt, in einen Machtkampf sondergleichen stürzen, das kann sich durchaus mit den unvergessenen Marcia Haydée und Richard Cragun messen. Dieses erotische Kräftemessen des Industriezeitalters zeigt überdies, wie sehr sich van Manen von seinem großen Vorbild Balanchine entfernen kann, indem er es fortwährend zitiert. Am präparierten Flügel spielt David Diamond John Cages „The Perilous Night“ wie einen gefährlich schlummernden Vulkan.

Welchen Kalibers dieser Choreograf ist, beweist sich auch an dem nun wirklich bei jeder Gelegenheit aufgeführten „Solo“, das mit den vorzüglichen Ivan Gil Ortega, Alexander Zaitsev und Thomas Lempertz noch immer ein frisches, animierendes Tanzvergnügen ersten Ranges ist.

„5 Tangos“ zur Musik von Astor Piazzolla, wie „Twilight“ mit jungen Tänzern der Compagnie komplett neu besetzt, zeigt sich vor allem in den Ensembles in allerbesten Händen und Füßen. Allerdings kann Elena Tentschikowa mit ihrem wie zugenähten Mund nur in technischer Hinsicht voll befriedigen, ein pochendes Herz gibt es nur in der Musik, und Ibrahim Önal, an Stelle des ursprünglich vorgesehenen Robert Tewsley, ist vor allem mit seinem großen Solo im dritten Tango nur ein Schatten dessen, was diese Partie hergibt. Keine Spur von herrischem Machismo und öliger Schmissigkeit. Dafür erfüllen Friedemann Vogel und Douglas Lee ihren homoerotischen Pas de deux im vierten Tango mit einer derart elektrisierenden, jede Gefahr der Entdeckung tollkühn negierenden Hochspannung, als würde es um Leben und Tod gehen. Alles in allem zeigt sich das Stuttgarter Ballett in diesem durchweg exzellent einstudierten Programm in einer blendenden Form. Hier haben die Ballettmeister und nicht zuletzt van Manens Vertraute Mea Venema bewundernswerte Arbeit geleistet.

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