Eine Winterreise

Nürnberg, 15/01/2000

Die jüngste abendfüllende Produktion des Balletts Nürnberg, „Eine Winterreise“, hat diese Tanztruppe endgültig unter den einfallsreichsten und experimentierfreudigsten in Deutschland etabliert. Ihre aus Stuttgart stammende Direktorin Daniela Kurz hat mit diesem Stück alles gewagt und alles gewonnen. Dass sie dazu imstande ist, Franz Schuberts Liederzyklus so respektvoll wie künstlerisch integer in Tanz zu verwandeln, das hat sie bereits vor drei Jahren mit ihrem „Willst wohl einmal hinübersehen“ im Wangener Theaterhaus bewiesen. Seinerzeit zur aufregenden Orchesterfassung Hans Zenders von Mitgliedern ihres eigenen Ensembles „T(r)anzform“ und des Essener Balletts interpretiert, hatte ihr dieses „choreografische Musiktheater“ nahezu uneingeschränkte Zustimmung des Publikums und der Kritik eingebracht.

Jetzt, in der Mitte ihrer zweiten Nürnberger Spielzeit, ist Kurz einen großen Schritt weiter gegangen. Es hätte leicht ein zu großer sein können. Das Ziel: Sieben renommierte und modern orientierte Ballettmacher ihrer Generation sollten jeweils einige Lieder der Winterreise choreografieren und damit ein dennoch homogenes Werk schaffen, dem seine sehr unterschiedlichen Urheber nicht anzumerken sein würden, ohne dass die Choreografen ihre persönliche künstlerische Handschrift verleugnen müssten. Außer ihr selbst waren das der Franzose Lionel Hoche, der Norweger Jo Strømgren, der Schweizer Gregor Zöllig, die Deutsche Birgit Scherzer, der Amerikaner Dylan Newcomb und der Argentinier Daniel Goldin.

Dass dieses Wagnis nicht in einem Desaster endete, sondern zu einem stürmisch bejubelten Erfolg geworden ist, das Nürnberger Publikum hat bei dieser Gelegenheit das rhythmische Klatschen für sich entdeckt, gründet zunächst auf drei sicheren Pfeilern. Erstens hat Kurz das Experiment etwas entschärft, indem sie zur Originalfassung des Zyklus mit den im Orchestergraben postierten Moritz Eggert (Klavier) und Thomas Berau (Bariton) zurückgekehrt ist. Zweitens nutzt sie das bewährte Bühnenbild von Stefan Morgenstern und die von ihr gemeinsam mit ihm geschaffenen Kostüme der Stuttgarter Version, sowie überarbeitete Teile ihrer eigenen damaligen Choreografie als dramaturgische Klammern und Leitlinien. Drittens vor allem haben sich ihre jungen Tänzer inzwischen zu einem Ensemble selbstbewusster und erstaunlich starker Individuen entwickelt, deren Bühnenpräsenz von unerhörter Suggestivkraft ist.

Mit Ausnahme Newcombs („Post“ und „Krähe“) hat keiner der Choreografen versucht, das tänzerisch zu bebildern, was Wilhelm Müllers Liedtexte ohnehin erzählen. Vielmehr haben sie getanzte Gedankenschleier, Empfindungen, Hoffnungen und Ängste entworfen, die das stetige Streben des menschlichen Daseins zum Tode hin als einen beinahe angenehmen, unabwendbaren und tröstlichen Fluss des Schicksals schildern, in dem jeder geborgen ist, auch wenn er das noch nicht erkennt.

Die Tänzer quellen gleichsam aus dem Orchestergraben auf die Bühne, wandern allein, mit einem Partner oder in großen Gruppen über eine breite und lange Bahn durch ein mächtiges Tor, hinter dem alle Kümmernis endet, in die Höhe, an deren Ende sie in eine andere Welt gleiten. Manche tun es widerstrebend, andere wieder geradezu ungestüm, als wollten sie endlich alle Last und Mühe hinter sich lassen.

Weil die Choreografen die Verbindungen zwischen ihren Liedern in gegenseitigem Einvernehmen selbst schaffen mussten, ändert sich das Bewegungsvokabular nie abrupt, sondern nimmt jeweils die Bilder der Vorgänger auf und bereitet dem Nachfolger einen künstlerischen Boden, auf dem er sicher wandeln kann. Das Ergebnis gleicht dem sanften Wiegen eines ruhigen Meeres, das alles in sich aufnimmt und zum Teil eines mächtigeren Ganzen macht. Wohl niemand wüsste zu sagen, wo genau das Stück des einen Choreografen endet und wo jenes des anderen beginnt.

Mehr noch: Durch ihre enge Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung ist den sieben, eigentlich sehr unterschiedlichen Choreografen eine verblüffend organische Arbeit gelungen, die, wenn nicht gar wie das Werk eines Künstlers, so doch zumindest anmutet, als stammten sie alle aus der gleichen künstlerischen Schule. Dabei ist das ganz und gar keine Gleichmacherei oder ein Bewegungsmischmasch. Dafür sorgen nicht zuletzt die Nürnberger Tänzer, die jedem Lied mit ihrer intensiven Darstellung ein eigenes Gepräge verleihen. Ihre Sprünge in die helfend ausgestreckten Arme ihrer Kollegen, das Wehen ihrer Körper zum Beispiel in Zöllings „Frühlingswind“, Strømgrens krakelige Figuren und wie er im „Lindenbaum“ Susanne Enzensberger das Sterben verweigert, Guido Wallners dynamisches Solo in Scherzers „Letzter Hoffnung“, Kurzens inzwischen so vertraute Körpersprache, Tom Baert, Jessica Billeter und all die anderen schaffen einen Abend, der sein Publikum in eine geradezu meditative Ruhe und Zuversicht versetzt. Es muss allerdings dazu bereit sein, sich in diesen Tanz zu versenken, nicht fortwährend nach Erklärungen und Bedeutungen zu suchen, sondern mit diesen Menschen in grauen Umhängen, schwarzen Hüten, braunen Hemden und Hosen auf ihrer Wanderung in den sanften Tod zu empfinden und der Musik zu lauschen. Die allerdings wird, durch die Aufführung in einem Opernhaus wohl zwangsläufig, für den Liebhaber von Liedern gelegentlich etwas zu druckvoll und dramatisch dargeboten. Vor allem Thomas Berau vom Nationaltheater Mannheim lässt seiner kräftigen, hin und wieder nicht allzu elastisch geführten Stimme manchmal über Gebühr die Zügel schießen.

Ein bedeutender Abend, ein großer Wurf, der selbst weite Reisen lohnt. Daniela Kurz hat in etwas mehr als einem Jahr eine Compagnie und ein Repertoire geschaffen, auf die Nürnberg stolz sein kann. Und sie hat mit dieser Produktion höchste Erwartungen an ihre beiden nächsten Uraufführungen „Emma Goldmanns Hochzeit I“ (1. April) und „Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?“ (17. Juni) geweckt.

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