Ein Fall für Youri

Ballett mit Handlung – oder auch nicht: „Othello“ in Düsseldorf

Düsseldorf, 26/01/2000

Handlungsballette sind was Schönes. Wenn sie gut sind. Dann sind sie Labsal fürs Gemüt und Futter fürs Gefühl. Handlungsballette feiern schließlich die großen L des Lebens: Liebe, Leid und – leider seltener – Laster. So jedenfalls ist es in der Theorie – und manchmal auch in der Praxis. Manchmal aber ist die Praxis ein Handlungsballett von Youri Vàmos. Und hat dann mit Gemüt und Gefühl oft nur noch theoretisch zu tun …

Youri Vàmos ist im vierten Jahr an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg tätig. Deren Ballett hat viel zu tanzen, aber nur selten Neues seines Leiters. Die jüngste dieser Raritäten heißt nun „Der Fall Othello“ und ist, wer hätte es gedacht, ein Handlungsballett nach Shakespeares Tragödie. Keine leichte Wahl! Denn immerhin schon 1949 schuf José Limón die nach wie vor beste Tanz-Adaption des Othello-Stoffes. Sein Quartett „The Moor‘s Pavane“ hat alles, was die Geschichte des Mohren von Venedig ausmacht – die vier Hauptpersonen, das Taschentuch – und noch viel mehr: ein Eigenleben nämlich als choreographisches Kunstwerk und die Kraft, Gemüt und Gefühl zu berühren. Und dauert dabei gerade mal 20 Minuten.

Fünf mal so lang (inklusive Pause) ist „Der Fall Othello“ von Youri Vàmos, und der ist einer der wenigen Choreografen, die sich der Kunst des „neuen“ Handlungsballetts verschrieben haben. Dafür muss man ihm danken – wie auch für die Entscheidung, sich im Falle des Falles Othello aus der Umklammerung des Handlungsballetts von anno dazumal zu lösen – äußerlich zumindest, in Gestalt der Ausstattung, die Michael Scott radikal auf einen grauen, hermetisch geschlossenen Raum und einfache, mit wenigen Strichen charakterisierende Kostüme reduziert hat.

Aber die Dankbarkeit wird dann doch, wie leider nur zu oft bei Vàmos, rasch abgelöst von der Enttäuschung über das Ergebnis. Dabei ist die zuvor nicht eben einleuchtende Wahl von Kompositionen Leoš Janáčeks eher noch auf die Habenseite der Produktion zu buchen: So fern sich Janáček, Shakespeare und Othello sind – irgendwie funktioniert es.

Die wesentlichen Fragen aber lässt Vàmos unbeantwortet: Weshalb interessiert ihn Othello? Wir sehen einen attraktiven dunkelhäutigen Tänzer (Jhane Hill), aber keinen Bühnencharakter. Was fällt Vàmos zu Marina Antonovas Desdemona ein? Kaum mehr, als dass es sich dabei um eine sehr blonde junge Dame handelt, die in jeder Lage, Haltung und Koitusstellung zu sehr schmachtenden Blicken fähig ist. Jago? Bei Vàmos ein schmieriger Typ mit schmierigen Bewegungen (Spencer Soloman). Und Rodrigo, Cassio und die Anderen? Stichworte auf zwei Beinen, bestenfalls. Nichts Neues also, ein Ballett-„Othello“ as usual.

So zappeln und zucken sich die knapp zwei Dutzend Tänzer in der bekannten Manier von Youri Vàmos durch das Stück, spulen es ab, erledigen es und ihre Arbeit, tun, was sie zu tun haben zwischen dem Öffnen und Schließen des Vorhangs im Düsseldorfer Opernhaus. Dann klatscht das Publikum brav Applaus. Aber seltsam: Obwohl sich die auf der Bühne gerade unablässig bewegt haben, gehen die im Saal doch nicht bewegt nach Hause. Handlungsballette, wie gesagt, sind was Schönes. Wenn sie gut sind.

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