Zum neunzigsten Geburtstag von Dore Hoyer

oe
Stuttgart, 12/12/2001

Man kann sie sich nur schwer als Neunzigjährige vorstellen – und ihr Todestag jährt sich zum bevorstehenden Jahreswechsel ja auch bereits zum vierundzwanzigsten Mal. Doch ein stilles Gedenken sollten wir ihr an diesem Tag schon widmen. Dore Hoyer würde wohl auch kaum in unsere Zeit passen, und es ist anzunehmen, dass sie für das heutige Tanztheater nicht viel übrighätte. Schon in dem vor zehn Jahren erschienenen Heft 17 der Zeitschrift „tanzdrama“ heißt es im Vorwort der ihr gewidmeten Sonderausgabe: „Dore Hoyer starb an einem Schnittpunkt der Tanzgeschichte. Als ihr das Tanzen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich war, sah sie keinen Lebensgrund mehr. In der Silvesternacht 1967/68 schied sie aus dem Leben. Mit ihr als letzter Künstlerin des Ausdruckstanzes endete diese Tradition modernen Tanzes in Deutschland. Sie war keine Vorbotin des heutigen Tanztheaters, aber in ihren Choreographien zeigte sie Möglichkeiten eines modernen Tanzes auf, die erst nach ihrem Tod wieder zur Geltung kamen.“

Schon im ersten Heft dieser Zeitschrift (1987) hatte Hedwig Müller sie als „eine Frau, die in Extremen lebte und die Extreme tanzte“ charakterisiert... „Völlige Abstraktion der choreographischen Struktur und zugleich tiefste emotionale Ausformung kennzeichnen ihre Tänze“.

Ganz ist sie uns indessen nicht verlorengegangen. Susanne Linke und jüngst auch Martin Nachbar haben sich um Rekonstruktionen, oder vielleicht sollten wir besser sagen um Annäherungen, beziehungsweise Neuinterpretationen ihrer „Affectos Humanos“ bemüht. In der Strenge und Konsequenz seines choreographischen Denkens und dessen tänzerischer Realisation wird man Gerhard Bohner nicht unbedingt ihren Nachfolger nennen wollen, doch etwas von ihrem Geist lebte in ihm und seinen Choreographien fort – und wenn sich sein Todestag 2002 auch schon wieder zum zehnten Male jährt, so ist es gut zu wissen, dass zumindest ein Teil seines Vermächtnisses in die Annäherungen Cesc Gelaberts an Bohners „Goldenen Schnitt“ eingegangen ist.

Und vielleicht gelingt es Gerhard Brunner ja eines Tages doch noch, seinen Traum einer Wiederbelebung von Mary Wigmans „Frühlingsweihe“ (so nannte sie ihre Einstudierung von Strawinskys „Sacre du printemps“ 1957 an der damals noch Städtischen Oper in Berlin) zu verwirklichen – in der Dore Hoyer in eigener Choreographie die Rolle des Opfers getanzt hat. Ob sich die jüngeren Generationen dann wohl ungefähr eine Vorstellung davon machen könnten, wie und wer die Tänzerin Dore Hoyer war? Ich zumindest könnte sie mit keiner der nach ihr gekommenen Tänzerinnen vergleichen.

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