„Blaubarts Geheimnis“ von Stephan Thoss, Tanz: Jamal Callender, Emma Kate Tilson

Nur die Liebe kann erlösen

Stephan Thoss zeigt in Mannheim seine Erfolgschoreografie „Blaubarts Geheimnis“

Im 2011 in Wiesbaden kreierten Erfolgsstück „Blaubarts Geheimnis“ erforscht Stephan Thoss, aktuell Ballettchef am Nationaltheater Mannheim, die innersten und tiefsten Geheimnisse, die ein Mensch haben kann.

Mannheim, 18/11/2018

Der Nationaltheater-Ballettchef Stephan Thoss ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. In seinen Choreografien wühlt er sich geradezu in die Seelen der Beteiligten, als wollte er das Innerste nach außen kehren. Und für all die heftigen Gefühle, die es zu entdecken gilt, choreografiert Thoss genauso intensive Bewegungen: mit weit ausgreifenden Gliedmaßen und enormen Sprüngen „himmelhoch jauchzend“, schmerzhaft zusammengekauert oder förmlich zerrissen und „zu Tode betrübt“. Geschult in bester Ausdruckstanz-Tradition hat sich Thoss ein Bewegungsvokabular erarbeitet, das sich stilistischer Festschreibung kreativ entzieht, aber für die Zuschauenden unmittelbar verständlich ist. Das kommt an – beim Publikum und bei Tanzintendant*innen jeder Couleur. Welcher Choreograf sonst hat schon erfolgreich für so gegensätzliche künstlerische Ausrichtungen wie Johann Kresnik, die Wiener Staatsoper und das Nederlands Dans Theater choreografiert? Crossover der Stile, Crossover der künstlerischen Genres: Thoss kreiert meist auch Bühne, Kostüme, und Licht selbst; feinstfühliger Umgang mit Musik versteht sich dazu beinahe von selbst.

In seinem 2011 in Wiesbaden kreierten Erfolgsstück „Blaubarts Geheimnis“ ist Thoss auf der Spur der innersten, tiefsten Geheimnisse, die ein Mensch haben kann. Dieser Blaubart verbirgt aber nicht wie in der Märchenvorlage gemordete Jungfrauen in seiner Burg, sondern er hat im übertragenen Sinn „Leichen im Keller“. Der Frauenheld und vielfache Liebhaber verbirgt im Innersten die Unfähigkeit, zu lieben.

Für die Mannheimer Neuinszenierung von „Blaubarts Geheimnis“ hat Thoss die Titelrolle mit Jamal Callender genial besetzt: einem dunkelhäutigen Ausnahmetänzer, der geschmeidige Eleganz und physische Attraktion ebenso mitbringt wie intensive Ausdrucksfähigkeit. Er verliebt sich – davon erzählt der Eingangsteil „Präludien“ (Musik von Henyk Gorécki) – in Judith (Emma Kate Tilson). Seine neue Liebe ist einerseits so blond, weich und mädchenhaft, wie das Klischee es will, und doch ist sie alles andere als ein kleines Mädchen. Nicht nur, weil sie die größte Tänzerin im vorzüglichen 17-köpfigen Mannheimer Ensemble ist; Augenhöhe ist hier nicht nur im physischen Sinn gedacht. Denn es ist Judith, die Blaubart ermutigt, sich seiner Vergangenheit zu stellen, und die den Mut mitbringt, Mitwisserin unwürdiger Geheimnisse zu werden.

Der erste Teil des Stücks, „Präludien“ spielt in einem abstrakten Raum, der perspektivisch aus den Fugen geraten ist; im titelgebenden zweiten Teil formen mobile Wände und Türen das klaustrophobische Innere einer Burg. Eingangs sitzen die beiden Liebenden an den Kopfenden einer viel zu langen Tafel, die ihnen Kommunikation unmöglich macht. Dazwischen agiert in merkwürdig abgehackter Formalität Blaubarts Mutter – eine Paraderolle für Alexandra Chloe Samion. Jetzt ist es Musik von Philipp Glass, die den Akzent auf feine Wahrnehmung setzt. Hinter all den verschlossenen Türen lauern Blaubarts vergangene Beziehungen – hinter der letzten aber findet sich erst der Grund für seine Unfähigkeit, zu lieben: Es ist die Mutter, die ihn nicht lieben und ihn die Liebe nicht lehren konnte. Judith erwächst am Ende zu unerhörter Stärke, wenn sie den Geliebten auch mit dieser gefühlten inneren Deformation annimmt. So geht ein gutes Ende, im Märchen wenigstens. Und das begeisterte Mannheimer Publikum wollte spürbar gerne daran glauben, dass Liebende einander erlösen können.

 

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