„Bernstein Dances“ von John Neumeier, Tanz: Aleix Martínez, Mayo Arii, Sasha Trush, Xue Lin, Jacopo Bellussi, Greta Jörgens

Großartige Hommage

John Neumeiers "Bernstein Dances" in Hamburg

Die Wiederaufnahme von "Bernstein Dances" beim Hamburg Ballett anlässlich des 100. Geburtstags des großen Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein.

Hamburg, 17/09/2018

Genau 20 Jahre ist es her, dass John Neumeiers „Bernstein Dances“ zum ersten Mal auf die Bühne kam. Jetzt erlebte es anlässlich des 100. Geburtstags des großen Komponisten und Dirigenten in Hamburg eine glänzende Wiederaufnahme. Schon der Titel ist Programm: „Bernstein Dances“ lässt sich auf zweifache Weise lesen; einmal als „Bernstein-Tänze“ und als „Bernstein tanzt“. Und wäre er noch am Leben, hätte es ihn ganz sicher nicht auf seinem Stuhl gehalten – er wäre auf die Bühne gestürmt und hätte sich unter die Tanzenden gemischt …

Neumeier hat hier eine von Anfang bis Ende begeisternde „Ballettrevue“ zusammengestellt, die all die vielen verschiedenen Facetten Bernsteins beleuchtet, so verständnisinnig und liebevoll-zärtlich, dass es mitten ins Herz trifft. Und das gesamte Hamburg Ballett tanzt, als gäbe es kein Morgen – spritzig, schwungvoll, dynamisch, aber auch nachdenklich, melancholisch, hochkonzentriert. Das gilt nicht nur für die erste, sondern ebenso – fast sogar noch mehr – für die zweite Besetzung.

Los geht’s bei noch geschlossenem Vorhang mit einem kompositorischen Geniestreich Bernsteins, der Ouvertüre zu dem Musical „Candide“, dem am Broadway kein besonderer Erfolg beschieden war; zu dieser Ouvertüre sei Neumeier aber schon als junger Mann „rumgetobt“ (wie er in der Ballett-Werkstatt am vergangenen Sonntag verriet). Zu den letzten Takten öffnet sich der Vorhang, und man sieht den jungen Bernstein am Flügel sitzen (ein von einer Tante geschenktes, gebrauchtes Klavier war die Initialzündung für seine musikalische Karriere). Und dann erhebt sich eines der schönsten und berührendsten Lieder, die Bernstein je geschrieben hat: „Who am I?“ aus „Peter Pan“, gesungen von der bildhübschen, hochgewachsenen 27-jährigen Sopranistin Dorothea Baumann, die (alternierend mit Marie-Sophie Pollak) zusammen mit dem nicht minder ansehnlichen 29-jährigen Bariton Oedo Kuipers die Bernstein-Songs präsentiert – beide mit Musical-Erfahrung und zurückhaltender Bühnenpräsenz, die sich nahtlos in den Tanz einfügt, ein Glücksgriff für diese Aufführungen.

Neumeier entwickelt im ersten Teil des Abends die musikalische Karriere Bernsteins in einem Vierer-Schritt: von den ersten zaghaften Gehversuchen über den Aufbruch nach New York, die „Stadt der Städte“, in die jede/r Künstler*in will, über seine Tiefgründigkeit und hohe Moral bis hin zu den großen Erfolgen als Dirigent (Bernstein war über Nacht zum Shooting Star unter den Dirigenten geworden, als er für den erkrankten Bruno Walter einspringen musste) und Komponist der „West Side Story“. Neumeier stellt hier Lieder wie „What a Waste“, „A Little Bit in Love“, „Wrong Note Rag“, „Lonely Town“, „So pretty“ und „Simple Song“ neben konzertante Episoden aus verschiedenen Werken und zeichnet so eine vielschichtige Charakterskizze Bernsteins, in deren Mittelpunkt die Spiritualität steht. Diese, so Neumeier in der „Ballett-Werkstatt“, gehöre essentiell zu Leonard Bernstein, der das größte Problem des modernen Menschen im Verlust des Glaubens sah. Glaube allerdings nicht im religiösen Sinn, sondern als moralische Struktur im Umgang mit anderen Menschen, wobei die Moral nichts mit Äußerlichkeiten zu tun habe, denn „God is the simplest of all“ heißt es in dem bewegend schlichten „Simple Song“. Und dafür, dass Bernstein nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, für seinen Mut, eine eigene Meinung zu haben, steht der ebenso zarte wie hintergründige Anti-Vietnamkrieg-Song „So pretty“, in dem eine Schülerin Bilder aus Vietnam sieht und nicht versteht, warum diese schönen Menschen, wie der Lehrer ihr erklärt, „für den Frieden sterben“ müssen.

Teil 2 des Abends beginnt noch einmal mit der „Candide“-Ouvertüre, diesmal mit dem ganzen Ensemble, besteht dann aber zum größten Teil aus Neumeiers „Bernstein Serenade“ von 1993, in der es um die Liebe in ihren vielen Spielarten geht: die langjährige Liebe in enger Verbundenheit und lebhafter Auseinandersetzung, die naive, die Symbiose suchende Liebe und die feurige, temperamentvolle Liebe. Es geht um das Zusammenkommen und Auseinandergehen, den Wechsel von der einen zur und zum anderen. Auch das eine nicht unwesentliche Facette in Bernsteins Leben, der verheiratet war und drei Kinder zeugte, sich später aber mehr zu Männern hingezogen fühlte, woran seine Ehe zerbrach. Und so ist der Abschluss dieser Serenade ein suchender, ein fragender: Wohin wird es gehen? Who am I? Aber damit kann es natürlich nicht enden bei einer Persönlichkeit, wie Bernstein sie war. Und deshalb kommt als Rausschmeißer noch einmal die „Candide“-Ouvertüre, und jetzt – ganz in der Musical-Tradition – als schwungvoll-ausgelassenes Verbeugungs-Ritual für Solist*innen und Ensemble. Grandios!

Wen aus diesem von A bis Z glänzend auftanzenden Ensemble soll man hervorheben? In der Rolle Leonard Bernsteins natürlich Christopher Evans, der mit dieser Spielzeit zum Ersten Solisten ernannt wurde und eine rasante Karriere hingelegt hat. Sasha Trusch gleich zweifach: einmal in der ersten Besetzung als hoch erotische „Love“, eine allegorische Figur für die Liebe, die sich durch das ganze Stück bewegt; und ebenso als Bernstein in der zweiten Besetzung, wo er mit seiner jungenhaften, enormen Bühnenpräsenz noch einen Hauch überzeugender und souveräner ist. Hélène Bouchet mit ihrer bezwingenden Eleganz. Xue Lin mit ihrer Zerbrechlichkeit und Stärke. Die furiose Madoka Sugai, der Mayo Arii in nichts nachsteht. Karen Azatyan und Aleix Martínez mit ihrem Charme und ihrer Lässigkeit. Emilie Mazon mit ihrer mädchenhaften Innigkeit. Jacopo Bellussi mit seiner Liebenswürdigkeit und Hingabe. Den erst 23-jährigen Ricardo Urbina als „Love“ in der zweiten Besetzung – ein überaus vielversprechendes Talent. Und dann natürlich die gesamte Kompanie mit ihrer unbändigen Freude am Tanz. Hervorzuheben ist aber auch das Philharmonische Staatsorchester, das Garrett Keast schwungvoll durch die anspruchsvollen Bernstein-Kapriolen führte. Sebastian Knauer am Flügel spielte die Solopartien stilsicher und einfühlsam. Was für ein Abend!

 

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