„Erde“ von Nacho Duato.

„Erde“ von Nacho Duato.

Großartiges Ballettepos

Nacho Duatos „Erde“ und Hofesh Shechters „The Art of Not Looking Back“ in einem Doppelabend am Staatsballett Berlin

Nacho Duato gelingt mit seiner Choreografie „Erde“ ein gigantisches Gesamtkunstwerk.

Berlin, 23/04/2017

Eine rothaarige Frau verweilt auf der Bühne, grün schillernd wie eine Märchennymphe, aufrecht wie eine Göttin, verführerisch, wie Eva im Garten Eden, doch der fehlt. Grau und nebulös ist das Umfeld. In einem Pas de trois wird die Frau Opfer zweier Männer und achtlos brutal unter den Plastikvorhang geschmissen. Sofort offenbart sich der tiefere Sinn. Die „Erde“ wird in Nacho Duatos neuem Ballett verhandelt, das der beeindruckenden Choreografie „Herrumbre“ im letzten Jahr als zweites aufrüttelndes Erzählepos unserer Tage folgt. Musik (Pedro Alcalde, Sergio Caballero, Richie Hawtin, Alva Noto und Mika Vainio), Bühnenbild (Numen + Ivana Jonke) und Kostüme (Beate Borrmann) verdichten sich grandios zur gesellschaftskritischen Chiffre im Spannungsfeld von Technik und Natur, Fortschritt und Zerstörung. 30 Tänzerinnen und Tänzer des Berliner Staatsballetts formieren sich zu Abbildern selbstherrlicher Macht- und Kampfkonstellationen, dressierten Klonwesen, gepeinigten Robotermenschen. Zur apokalyptisch pulsierenden Musik, den harten Elektrobeats bilden sie in immer neuen Variationen rasende, wogende Menschenketten, die sich in Reihen, Kreisen ineinander verschlingen, solidarisieren, aufbegehren, sich trotz ihrer Kampfschreie immer wieder niederducken, Verursacher und Opfer zugleich.

Die „Erde“ begehrt auf, tanzt ihre Soli auf Spitze wie ein halluzinogenes Traumwesen, wunderschön, doch völlig isoliert, nicht mehr von dieser Welt. Immer mehr umhüllt sie der Dunst des Klimawandels, in dem die Tänzer zu Schemenwesen degradieren, neue Eiszeiten sich ankündigen. Die Tänzer wirbeln, springen, rollen in fliegenden Pelzmänteln über die Bühne, als wären sie gerade dem Beginn der Zivilisation entsprungen, während die Tänzerinnen als Ausdruck des Weiblichen, Emotionalen wie Feen in langen schwingenden Kleidern in sanften Drehungen schwebend im Smog verschwinden. Nebelwerfer intensivieren das klimatische Inferno. Die Menschen können nur noch in Plastikoveralls überleben, mutieren unförmig wie aufgeblasene Pierrot-Clowns zu Robotern, die in Breakdanceoptik hektisch zappeln. Doch der Fortschritt bringt auch Hoffnung. Im blauen Lasergitter über die Bühne hinaus bis in den Zuschauerraum formiert sich das Ensemble in Blau, der Farbe der Hoffnung, zu neuen wogenden Menschenbildern der Solidarität mit Blick nach allen Seiten so lange, bis im Hintergrund eine tropische Waldidylle sichtbar wird, in der sich die „Erde“ mit erotischer Rückenlinie genussvoll und verführerisch einladend auf den Boden schmiegt.

Das ist großartiges, nachhaltiges Erzählballett unserer Tage, eine gelungene Synthese von klassischem und modernem Tanz, klassischer und elektronischer Musik, traditionellem Bühnenbild und technischen Bühneneffekten.

Der einzige Nachteil ist, dass „The Art of Not Looking Back“, die deutsche Erstaufführung des britisch-israelischen Choreografen und Musikers Hofesh Shechter im Vorfeld angesichts dieses Meisterwerks von Nachu Duato schnell verblasst. Hofesh Shechter lässt mit Worten sein Ballett kommentieren. „My mother left me, when I was two“, ist der Beginn. Ein gequälter Schrei eines Mannes folgt. Sechs Tänzerinnen erzählen oft in Schattenspieloptik (Licht: Lee Curran) die Geschichte dazu, von äußerem Schein und innerem Sein. Shechter fokussiert auf das Seelenleben der modernen Frau, auf die psychotische Emotionalität unseres Lebensstils. Die Tänzerinnen des Berliner Staatsballetts verwandeln sich in neurotisierte Zappelfiguren. Die weichen Hüftschwünge verschwinden, dafür mehren sich geflexte Füße, Flatterhände, hektische Beschleunigungen. Die Körper verweigern den aufrechten Stand, kippen nach hinten, überdehnen sich maßlos. Beine trippeln und zappeln zum Staccato der Musik, zucken spastisch. Ruhe und Entspannung für „The Art of Not Looking Back“ gelingen allein durch die Posen des klassischen Balletts, doch kaum erreicht, geht es in eine neue Runde elektrifizierender Hektik bis zur Ekstase eines epileptisch bizarren Tanzstils.

 

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