Faszinierende Einladung

Neuerscheinung: „Anita Berber – Ein getanztes Leben“ von Lothar Fischer

Als ausgewiesener Kenner legt der Kunsthistoriker in seiner dritten Publikation zu Anita Berber (1899 Leipzig – 1928 Berlin) den Fokus auf das tänzerische Leben der schillernden Berliner Nachtklub-Ikone.

„Mehr als 85 Jahre nach ihrem Tod erregt diese Frau immer noch viele Gemüter. Anita Berber war mehr als nur eine zeittypische Figur. Sie war eine Rebellin, die den Mut hatte, Tänze nach der Musik von Beethoven, Chopin, Liszt und Brahms mit einer seriösen Choreographie in der Unterwelt des Tanzes aufzuführen“, konstatiert Lothar Fischer einleitend.

Als ausgewiesener Kenner legt der Kunsthistoriker in seiner dritten Publikation zu Anita Berber (1899 Leipzig – 1928 Berlin) den Fokus auf das tänzerische Leben der schillernden Berliner Nachtklub-Ikone und schöpft dabei sowohl aus dem exquisiten Material seines eigenen Archivs als auch aus den Dokumenten vielfältiger Partner und Zeitzeugen.

„Anita Berber – das Gesicht zur grellen Maske erstarrt dem schaurigen Gelock der purpurnen Coiffure – tanzt den Koitus“, schreibt Klaus Mann in seinem Lebensbericht „Der Wendepunkt“. Die vorliegende Biographie erhellt in zwölf Kapiteln, wer die skandalumwitterte „Göttin der Nacht“ jenseits von Nackttanz-Klischee, Drogenexzessen (und dem berühmten Porträt, das Otto Dix 1925 von ihr malte) war, worin die Faszination der Tänzerin des Lasters, der Ekstase, des Grauens bestand und wie und in welchem Kontext Anita Berber tanzte.
In „Wurzeln und Kindheit“ – gibt der Autor Einblick in die bewegten Lebenswege der Künstler-Eltern und Geschwister und in Anitas enge Beziehung zur Großmutter als Zentrum einer bürgerlichen Familie in Dresden. 1912 zählt sie zu den jungen Teilnehmerinnen der Rhythmusgruppe der Dalcroze Schule Hellerau und ab 1916 erfolgt ihr „Aufstieg in Berlin“, wo sie mit Großmutter, Tanten, Mutter in der Zähringer Straße 13 in Wilmersdorf wohnt. Anita Berber tanzt zunächst in der exotischen Gruppe von Rita Sacchetto und präsentiert sich 1917 in ihrem ersten Solo, das vom Berliner-Börsen-Courier und dem einflussreichen Kritiker Oscar Bie besprochen wird. Auftritte im Wintergarten, Apollo-Theater in Wien und Budapest folgen. Anita posiert für neueste Hut-Kreationen auf s/w-Postkarten. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs schwärmt Anita Berber für Leni Riefenstahl. Sie heiratet einen Adligen; nach drei Jahren wird die Ehe 1922 geschieden.

Sebastian Droste, expressionistischer Lyriker, Maler und Tänzer, tritt 1920 erstmals in Berlin auf und beide gehen privat und künstlerisch eine Liason ein. „Sebastian und der nackte Tanz“ – der drogenabhängige Betrüger inszeniert Berbers Leben und ihre Tanzduette. Als Skandal-Paar erobern beide mit demonstrativer Nacktheit die geheimen Lasterhöhlen und Kleinkunst-Bühnen. Anita Berber, weiß geschminkt mit rotem Kussmund und rotblonden Kurzhaar inszeniert sich und ihren schlanken Körper auf der Bühne und im Fotostudio.

Besonders der ‚befreite‘ Körper von Anita Berber wird als sinnliches Objekt der Begierde in Kunst-Fotografien von Dora Kallmus, von Porzellan-Figuren bis zu Zigaretten-Bildchen begehrtes Sammlerobjekt. Sie ist ein extravagantes Modell und Mitglied (wie auch Conrad Veidt, Fritzi Massary) im Ehrenkomitee der Berliner Kostümfeste. Der Autor zitiert Fred Hildenbrandt, Feuilletonchef Berliner Tageblatt; dieser beschreibt einen Skandalauftritt der Berber im Berliner Kabarett Die weiße Maus. Sie posiert als Eton-Boy mit Monokel. Drogen- und Alkoholexzesse, lesbische Affären (Frauenlokale sind in Berlin erlaubt in Wien verboten) bringen Anita Berber perfekte Publicity.

1924 heiratet Anita Berber den 24-jährigen amerikanischen Tänzer Henri C. Hofmann; beide touren und werden zum verfemten Tanzpaar der High Society in Europa (aufschlussreich sind Zitate aus der Akte „Nacktkultur und Nackttänze“, Berliner Polizeipräsidium, 1926). Anita Berber tanzt in den eigenen Abgrund. Richard Oswald entdeckte die Berber und machte sie zum Stummfilmstar; Lothar Fischer lenkt im Kapitel „Filme und Bühne“ den Blick auf Berbers umfängliches Film-Tanzschaffen beginnend mit „Dreimädlerhaus“(1918), in dem sie die Tänzerin Carlotta Grisi verkörpert, bis zu Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1921/22). Anita Berbers Existenz in Film, Bühne und Leben nähern sich einander an; sie spielt auf der Klaviatur bürgerlicher Sehnsüchte. Fischer zeigt auf, wie sie die femme fatale sündiger Leidenschaften kreiert und in einer Welt des Verfalls aller Werte lebt, die mit der Zerstörung der überkommenen Kunst-Werke im Dadaismus korrespondiert. Berbers „Moderne Tänze“ sind „Tänze des Grauens, des Lasters und der Ekstase“ – makellos nackt lockt sie als „Salome“, im engen Mieder mit freien Brüsten tanzt sie „Kokain“ (1922) – deren Intentionen die Tanzkonzeption Sebastian Drostes zusammen mit aussagekräftigen Zitaten aus der Studie „Anita Berberová“ (1930) des tschechischen Choreografen und Autors Joe Jenčík auf singuläre Weise zur Anschauung bringt.

Zehn Jahre ihres kurzen Lebens war sie in ihren Solo-Kreationen (Kokain, Morphium, Salome, Astarté) kompromisslos dem Bösen wider die herrschende gesellschaftliche Moral auf der Spur. Das Wesen des menschlichen Ichs brachte sie, „mit entblößter Seele“ tanzend, radikal in ihren streng durchkomponierten Soli zum Vorschein. Ihre künstlerische Präsenz und ihr Spiel mit sexueller Grenzüberschreitung spaltete Publikum wie Kritiker. 1928 erleidet sie auf einer Tournee in Damaskus einen Zusammenbruch. Freunde bringen die Schwerkranke (Schwindsucht, Tuberkulose) über Prag nach Berlin. Am 10. November 1928 stirbt Anita Berber im Bethanien-Krankenhaus Berlin-Kreuzberg. Die Nachrufe spiegeln zeitanalytisch Aufstieg und Absturz des Tanz-Stars.

Fischers opulente Biographie macht den Zeitgeist hemmungsloser Lebensgier, in dem Anita Berber sich tanzend und spielend auslebte, detailreich sichtbar. Sein Buch, edel in Layout und Druck, ist eine faszinierende Einladung den Mythos Anita Berber im Kontext der Inflationszeit mit überraschenden Analogien zum Heute zu ergründen.


Lothar Fischer: Anita Berber - Ein getanztes Leben, 1. Auflage 2014, 200 Seiten, 120 Abbildungen, Klappenbroschur, Euro 22,95, ISBN 978-3-930388-85-1

 

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