HEINRICH TANZT II - Über die Kunst, still zu stehen

130 Jugendliche, 7 Assistenten, 4 Choreografen und 2 Initiatorinnen - Die Arbeit an „HEINRICH TANZT“ setzt eine aufmerksame und aufgeschlossene Kommunikation aller voraus

Im Mittelpunkt der zweiten Projektwoche stehen Konzentration, Vernetzung, Gegensätze.

München, 11/07/2013
Dienstag, 09.07.2013.
Wir befinden uns im Bosl-Saal. Stille. Eine Gruppe von Kindern steht in einer langen Reihe an der Fensterwand des Saales. Ein Junge bringt schließlich Bewegung in dieses statisch-konzentrierte Bild, gibt ihm eine Dynamik. Er zeichnet mit den Händen von links nach rechts der Reihe nach die Silhouetten der Gruppe nach. Dabei achtet er sorgfältig darauf, die individuellen Formen von Schultern und Kopf, ja sogar den Ohren, für den Zuschauer entstehen zu lassen. Am Ende reiht er sich ein. Das Bild wird wieder statisch.

Stehen. Still. Konzentriert. Fokussiert. Blick nach vorne. Dann: ein Ruck geht durch die Reihe. Energische Schritte nach vorne, an den imaginären Rand der Bühne. Dort kommt die Gruppe zielgerichtet erneut zum Stehen. Stopp. Keine Bewegung.

Stehen. Still. Konzentriert. Fokussiert. Blick nach vorne. Bis hier hin war es ein langer Weg. Sich aufs Stehen konzentrieren − das klingt leicht. Doch nach und nach stellen die Schüler fest: das ist gar nicht so einfach. Nur ein Blick, der umherschweift. Nur ein nachlässiges Zurechtzupfen der Kleidung, Binden der Haare – und der gesamte konzentrierte und dadurch starke Ausdruck, der sich durch die stehende Gruppe sammelt, verschwindet. So lernen die Kinder, dass Stehen eine sehr anspruchsvolle Aufgabe sein kann. Martina LaRagione und Lenka Flory arbeiten gemeinsam an diesem Bild, welches die Schüler wie in einer Art Portrait auf der Bühne zu Beginn des Stückes einführen soll. Immer wieder stellen sich die beiden Choreografinnen vor die Schüler. Sie demonstrieren ihnen, welche Spannung der Körper haben muss, um als ein stehender Körper ohne Bewegung den Fokus der Zuschauer auf sich zu ziehen und ihn dort zu halten.

Über die Kunst der (vermeintlichen) Gegensätze.
Ein langer Streifen Papier. Ein junges Mädchen. Es entdeckt das Papier, fühlt das Material, findet Gefallen. Es summt leise vor sich hin. Mit zarten und vorsichtigen Bewegungen wird das Papier von ihr Stück für Stück um den Körper gewickelt. Das Papier wird umfunktioniert, wird zum Kleid. Das Mädchen wird zur Braut. Die sich in ihr Kleid einfindet, sich dreht, sich selbst bewundert.
Man versinkt förmlich in diesem Anblick und so fällt einem der Junge, der parallel zu dem Mädchen die Szene betritt, zunächst fast gar nicht auf. Er platziert sich dann jedoch unübersehbar auf dem Papier. Somit liegt er auf ihrem Kleid. Auf der Schleppe. Liegt dort. Wartet.

Doch etwas daran hinterlässt einen unharmonischen Eindruck. Beinahe wirkt der Junge störend. Schließlich ist der Weg des Mädchens beendet, als sie bei dem Jungen ankommt. Das, was wir vorher als eine unterschwellige Disharmonie empfunden haben, visualisiert sich nun eindeutig in einer starken Abwehrhaltung des Mädchens gegenüber dem Jungen. Er will sie mitnehmen, sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Tritt um sich, versucht, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie ist dabei − wie das Papier − zum Zerreißen gespannt.

Firas Saka, der schon im Projekt des Vorjahres mitmachte, bei THINK BIG! auftrat und jetzt freiwillig wieder dabei ist, und Sophia Dekkers arbeiten hier mit Rafaele Giovanola an einem eindrucksvollen Bild, das bereits am zweiten Probentag Widersprüche und vermeintliche Gegensätze spiegelt und auffängt: Liebe und Hass, Kampf und Hingabe. Angelehnt an das Libretto der Oper „Mitridate, re di Ponto“ wird hier in dieser Szene aufgefangen, wie nah diese Gegensätze beieinander liegen, sich sogar gegenseitig begründen.

Über die Kunst der gelungenen Vernetzung
Heinrich tanzt „Ohne dich ist alles nichts“ inkludiert dieses Jahr eine nicht unwesentliche Änderung gegenüber dem Konzept der vorigen Jahre – statt einer künstlerischen Leitung gibt es dieses Jahr gleich vier. Norbert Graf, Rafaele Giovanola, Martina LaRagione und Lenka Flory. Drei Choreografinnen und ein Choreograf, die gemeinsam mit der dramaturgischen und musikalischen Leitung an einem Strang ziehen, ihre individuellen Ideen miteinander vernetzen und so vier Stücke von jeweils ca. 15 bis 20 Minuten zu einem großen Ganzen werden lassen. Die 130 Jugendlichen arbeiten in Gruppen zu ca. 30 – allerdings entgegen der ursprünglichen Klassenbesetzung. So will man die Cliquen auflösen und die Schüler anhalten, neue Schulkollegen zu finden.

Diese Art der Zusammenarbeit setzt eine aufmerksame und aufgeschlossene Kommunikation aller Beteiligten untereinander voraus. Das Team kommuniziert unterem anderem nach dem hektischen Probenalltag in einer gemeinsamen Besprechung. Zu Beginn steht die Frage nach Set und Kostüm. Sollen alle Gruppen gleich gekleidet erscheinen, und so anhand der Kostüme aus den verschiedenen Sequenzen und Szenen bereits eine Art der Einheit formen? Gibt es Abweichungen in den jeweiligen Choreografien, die sich in der Kleidung wiederfinden sollten? Nachdem eine erste Einigung diesbezüglich schnell gefunden ist, stellen die Künstler jeweils kurz ihr bisher erarbeitetes Material vor und skizzieren die Reihenfolgen, welches Material noch hinzukommen wird. Es ist interessant zu beobachten, wie so ein wechselseitiger Austausch entsteht, wie Ideen sich verweben und weiterentwickeln. Im Verlauf der Besprechung wird so unter anderem in Rücksprache mit der musikalischen Leitung (Mathis Nitschke) noch die Reihenfolge der vier Stücke festgelegt. Vorläufig und immer mit der Option, dass alles auch noch anders werden kann.

Alle Beteiligten kommunizieren hier auf einer Ebene, alle, d.h. die vier Choreografen, die beiden Initiatoren Bettina Wagner-Bergelt und Simone Schulte, die sieben Assistentinnen und Assistenten, Anna, Anna und Anna, Peter, Alexander, Lisa, Nora – seit Montag ist auch Marcelo Omine wieder dabei − befinden sich in einem gemeinsamen, sehr konstruktiven Prozess.

Spannend, wie Mathis aus den Motiven der Mozart-Oper „Mitridate“ immer wieder neue Musikbearbeitungen entwickelt und daraus wiederum neue szenische Ideen entstehen.
Am Mittwoch, will Martina LaRagione im Training an der „Bühnenreife“ der Schüler arbeiten. Intensität der Bewegung, Größe der Bewegung, Konzentration…Einige begreifen noch nicht, dass ihr Kichern und Lachen auf der Bühne nicht lustig ist, auch nicht interessant. Nur dann, wenn sie sich selbst ernst nehmen bei allem, was sie machen und sei es noch so klein und scheinbar unwichtig, kann die Magie des Theaters auf die Zuschauer übergehen. Am Ende werden es – wie immer und in allen sieben Jahren zuvor – fast alle begreifen und umsetzen.

Nora Böttger


Freitag 12.7.2013
Heute haben sich wieder alle knapp 130 Schüler im Bosl-Saal eingefunden. Die gespannte Erwartung auf das gleich Kommende ist groß. Zum ersten Mal zeigen alle Gruppen einander, was sie in den letzten beiden Wochen erarbeitet haben. Hier ein paar choreografische Einblicke:

Eine dicht zusammengedrängte Gruppe Jugendlicher bewegt sich von einer Diagonale des Raumes zur anderen. Zu einem elektronisch verzerrten, monotonen musikalischen Grundmuster klopfen sich die Jugendlichen mit der Faust auf das Brustbein, verschränken die Arme ebenfalls mit geballten Fäusten vor dem Gesicht und lassen diese wieder neben den Körper sinken. Wiederholung. Dazu ein militärisch anmutender Gleichschritt. Die Szenerie wirkt sehr bedrohlich, vor allem dann, wenn es der gesamten Gruppe gelingt, sich völlig auf die Situation zu konzentrieren und ein Zupfen an Haaren oder Klamotten zu vermeiden und den Blick streng geradeaus zu richten. Als Kontrast dazu steht eine kurze choreografische Sequenz zu zweit. Erstaunlich daran: Jungen und Mädchen tanzen in Paaren zusammen.

Ein kurzer zeitlicher Sprung zurück an den Anfang der Woche: Die Jungen und Mädchen sollen sich in Paaren zusammen finden. „Was?“ Ein erschreckter Blick zur Freundin – verlegenes Fummeln an den Haaren – nervöses Kichern – und keiner bewegt sich zunächst vom Fleck und macht irgendwelche Anstalten, sich mit einem Partner zusammenzutun. Doch die Choreografin Rafaele Giovanola und ihre Assistenten Marcel Omine und Anna Ressel scheinen nicht locker zu lassen und legen die Paare namentlich fest. Die ersten Mutigen trauen sich doch und bewegen sich eher in Zeitlupe auf ihren Partner zu. Sehr zögerlich und widerwillig beginnen die einzelnen Paare eine eigene kleine Choreografie zu erarbeiten.

Sprung wieder an das Ende der Woche: Die Jungen und Mädchen präsentieren ganz selbstverständlich und ohne eine Miene zu verziehen, die jeweilig einstudierte Choreografie vor den anderen Gruppen. Alles wirkt sehr konzentriert und teilweise auch schon sehr professionell.

Eine Art Menschenhaufen aus ca. 30 Jugendlichen. Zu sehen sind ausschließlich die Rücken der Jungen und Mädchen. Der Menschenberg steigt nach hinten hin an. Nur ein Junge steht mit dem Gesicht zum Publikum gewandt, Dardan Danti. Ein anderer Junge beginnt den Berg zu erklimmen, Francisco Huaman Wichler. Er kraxelt geschickt von Rücken zu Rücken bis er sich auf Dardans Schulter setzt. Die anderen Jugendlichen stürmen aus dem Bild. Zurück bleiben nur Dardan und Francisco. Letzterer beginnt in die Stille hinein einen Teil der dem Stück zu Grunde liegenden Arie zu singen. Ein sehr starker Moment. Im Saal, der mit ca. 130 Schülern gefüllt ist, ist es mucksmäuschenstill.

Das Showing von Gruppe 2 beginnt auf dem Boden. Zu sehr ruhiger Musik beginnen sich die Jugendlichen langsam zu bewegen. Sie balancieren, jeder für sich, einen imaginären Gegenstand auf den Händen. Langsam, fast meditativ, stehen sie auf, ohne dabei auch nur einmal die kreisenden Bewegungen der Arme um den eigenen Körper zu unterbrechen. Der imaginäre Gegenstand wird keinen Augenblick aus den Augen gelassen, fürsorglich gemeinsam gehalten...

Am Ende der Woche ist klar, dass die Jugendlichen in dieser Woche in Sachen Konzentration und Fokussiertheit einiges dazu gelernt haben. Das gesamte Team ist sehr zufrieden mit den Fortschritten. Fest steht: In der nächsten Woche geht es vor allem um die Verschränkung der Ideen der Choreografen und die Zusammensetzung der einzelnen Teile des Stückes zu einem Ganzen. Es bleibt spannend.

Lisa Nagler

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