Frederick Ashtons Strawinsky-Ballett „Scènes de ballet“ (1948). Tänzer: Daria Sukhorukova Maxim Chashchegorov

Frederick Ashtons Strawinsky-Ballett „Scènes de ballet“ (1948). Tänzer*innen: Daria Sukhorukova, Maxim Chashchegorov

„Very British!"

„Steps & Times“ beim Bayerischen Staatsballett

München, 26/12/2011

„Very British! – eine englische Saison“ hatte Staatsballettchef Ivan Liska im Herbst angekündigt. 2011/12 wird also eine Hommage an die große Tradition des britischen Balletts, das Vorbild in ganz Europa wurde und dem speziell München eine Menge verdankt. Schließlich wurde das Ballett der Bayerischen Staatsoper zwischen 1954 und 1986 geprägt von den jeweils auch choreografierenden britischen Ballettchefs Alan Carter, John Cranko (kommissarisch leitend), Ronald Hynd und der Royal-Ballet-Ballerina Lynn Seymour. Und die Cranko-Klassiker „Onegin“, „Romeo und Julia“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ wie auch „Dornröschen“, „Schwanensee“ und „Giselle“ von dem Briten Peter Wright waren/sind noch heute Eckpfeiler des Repertoires. Und was nun am britischen Ballett so „very british“ ist, lässt sich in dieser Spielzeit ja vielleicht herausfinden.Die erste Premiere präsentierte unter dem Titel „Steps & Times“ (Schritte & Zeiten) vier Stücke aus der Feder von Frederick Ashton (1904-1988) und Kenneth MacMillan (1929-1992), zwei der wichtigsten Vertreter des britischen Balletts der 1930er bis 1980er Jahre (Münchner Nationaltheater).

Frederick Ashtons Strawinsky-Ballett „Scènes de ballet“ (1948) ist – zumindest für Schritt- und Stil-Fanatiker – ein absolutes Juwel. In einem Chirico-esken klassizistischen Dekor entfaltet sich eine Choreografie, die in den klaren, geometrischen Arrangements der Tänzer wie in Bewegung gebrachte abstrakte Malerei wirkt (man sollte dieses Ballett unbedingt vom Balkon oder Rang sehen). Diese Wirkung wird noch verstärkt durch die weißen Tütüs und den schwarzen, geometrischen Musterbesatz auf den Oberteilen von Frauen und Männern. Die Gruppierungen des klassisch-romantischen Balletts des 19. Jahrhunderts – sich formende und wieder auflösende Reihen, Diagonalen, Kreise, Vierecke – sind hier noch vorhanden, aber sie sind messerscharf konturiert. Und genau so das Vokabular: Posen werden wie Schattenrisse gehalten. Die Sprünge der hier ausgezeichneten Männer flitzen hoch, sekundenpräzise in den Akzenten der Strawinsky-Partitur. Die Spitzenschuhe sticheln sich metronomisch in den Boden. Das „épaulement“, die leichte Wendung der Schulter nach rechts oder links, ist pointiert. Die Arme fließen nicht, sondern gehen ganz bewusst durch die fünf klassischen Positionen. Es ist fast so, als tanze hier – in faszinierend positivem Sinn – eine Truppe von belebten Marionetten. Dieses Bewegungsmaterial – in der Senkrechtachse gehaltener Oberkörper bei komplexen kleinen Schritt- und Sprung-Kombinationen à la Enrico Cecchetti (Der Italiener war neben russischen Pädagogen der wichtigste Lehrmeister für die „englische Schule“) – ist verdammt schwierig, vor allem für die Münchner ungewohnt. Zu Beginn verzeichnet man bei den Damen ein bisschen Wattigkeit in den Beinen. Insgesamt wurde exzellent getanzt, vor allem von der Ersten Solistin Daria Sukhorukova, die in ihre Variationen und Pas de deux mit Maxim Chashchegorov einen angemessen zurückgenommenen Gefühlsausdruck hineinbringt.

Dieser Ashton ist ein Paradebeispiel britischer Neoklassik – die sich am besten durch einen Vergleich beschreiben lässt: Wenn in Amerika George Balanchines Neoklassik in schräge Hüften, jazzige Arme und hochgeschleuderte Beine ausschert, so ist bei dem Briten Ashton jede Bewegung zu vornehmer Linie gezähmt. Die Höhe des Beines spielt keine Rolle, nur die exakte, harmonische Position. E i n Charakteristikum des „British Ballet“ lässt sich schon mal festmachen: statt Pathos Präzision, statt Brio aristokratisches Understatement.

Aber das britische Ballett verschloss sich auch nicht den modernen Tendenzen, wie Frederick Ashtons Nachempfindung von Isadora Duncans freier Bewegungskunst beweist. In seinen „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“ (1975/76) erkennt man den Einfluss der Duncan-Bewundererin und Rhythmikerin Marie Rambert, die neben Ninette de Valois als große Gründergestalt des britischen Balletts gilt (beide hatten übrigens in Diaghilews berühmter Kompanie, den Ballets Russes, getanzt und dort auch mit Cecchetti gearbeitet). In Ashtons hier energisch weit schwingende, mal kämpferische, mal verspielt lyrische Bewegungsfolgen geht die Münchner Halbsolistin Stephanie Hancox mit großer Kraft, mit Sicherheit und Ausdrucksstärke hinein. Mehr als deutlich bei Hancox, gerade im Vergleich zu ihrem zurückliegenden Debüt in dieser Rolle, dass Lynn Seymour, Ashtons erste Duncan-Interpretin, sie jetzt noch mal intensiv gecoacht hat.

So weit, so britisch gut. Der von dem Japaner Ryusuke Numajiri zuverlässig dirigierte Abend bekommt dann allerdings etwas Patchwork-artiges: Ashtons Pas de deux zu Johann Strauß' „Frühlingsstimmen-Walzer“ (1977) lässt plötzlich eine nicht ganz passende, flott beschwingte Gala-Atmosphäre aufkommen. Lukas Slavicky und Gast-Ballerina Katherina Markowskaja machen ihre Sache gut. Markowskaja flattert das Technik-Bonbon federleicht mühelos auf die Bühne. Im Stil allerdings haargenau so, wie sie fürs Staatsballett schon die „Nußknacker“-Marie getanzt hat. Also: wenn schon diese kleine Ashton-Gelegenheitsarbeit, dann doch, bitteschön, mit „very british“-Flair. Hätte eine Ballerina des Royal Ballet das gekonnt? Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht. Grundsätzlich lässt sich der „englische Stil“ sowieso nicht auf zwei, drei Merkmale reduzieren. Zwar wird er gehütet und gepflegt durch die von Ninette de Valois schon in den 1930er Jahren gegründete Schule und das sich immer wieder selbst überprüfende Ausbildungssystem der Royal Academy of Dance (solch ein einheitliches Ausbildungssystem hat in Deutschland eben immer gefehlt!). Aber natürlich hat sich das britische Ballett im Laufe der Zeit auch verändert. Während früher ausschließlich britische Tänzer im Royal Ballet tanzten, ist es heute international besetzt, was zwangsläufig eine Globalisierung mit sich bringt. Schon in den 1960er Jahren hat der Exil-Russe Rudolf Nurejew – gegen viel Widerstand! – im Royal Ballet, wo er „permanent guest artist“ war, das Narzistische, das Animalische des Tanzes hoffähig gemacht.

Und wie bei Ashtons „Duncan-Fantasie“ bereits angedeutet: auch der freie Tanz, vor allem der kodifizierte Modern Dance der großen Martha Graham – in Europa von den Engländern übrigens zuerst gelehrt und kultiviert – hat Spuren im Ballett hinterlassen. Siehe Kenneth MacMillans Mahler-Ballett „Das Lied von der Erde“ von 1965. MacMillan, eine Generation jünger als Ashton und neuen Einflüssen gegenüber aufgeschlossen, übersetzt mit dramaturgischer Gründlichkeit die Lied-Texte von Hans Bethge zwischen Jugend, Schönheit, Abschied und Tod, indem er in seine Neoklassik Graham-Elemente hineinnimmt: leicht im Knie gebeugte Schleifschritte, Graham-Sprünge mit angewinkelten Beinen, breitbeinige Männerpositionen, anmutige S-kurvige Frauenhaltungen; Arme, die wie leidende Flügel nach unten abgerundet geführt sind und die grahamsche Kontraktion in der Körpermitte – ein unmittelbarer Ausdruck von Erleiden und Schmerz. Im Kontext eines historischen Rückblicks hatte dieses Stück hier wohl eine gewisse Berechtigung. Gecoacht von dem 74jährigen Donald MacLeary, einem berühmten MacMillan-Interpreten, wurde es auch exzellent getanzt vom Staatsensemble und den Protagonisten Lucia Lacarra, Marlon Dino und Tigran Mikayelyan. In seiner Langatmigkeit und in seiner gelegentlich kunstgewerblichen Bebilderung der Texte ist es jedoch aus der Zeit gefallen. Und als Wiederaufnahme von 2006 – immerhin in einer Saisonauftakt-Premiere, in der nur das 21-minütige „Scènes de Ballet“ und das Gala-Praliné neu waren, hat dieser MacMillan enttäuscht. Sparzwänge mögen zu diesem etwas merkwürdigen Abend geführt haben.

Fürs Ballett ist eben doch nicht soviel Geld da wie für die Staatsoper, die sich gerade eine opulente sündteure „Turandot“ geleistet hat. Mehr zum Thema „Very British“ jedenfalls am 31. Januar: ein Dreiteiler, in dem man ein zeitgenössisches Stück des Ex-Royal-Ballet-Tänzers Russell Maliphant sehen wird und Macmillans „Las Hermanas“ wiederbegegnet. Das Tanzdrama nach Garcia Lorcas „Bernarda Albas Haus“, 1963 für Stuttgart kreiert, wurde 1975 von München übernommen, damals mit Konstanze Vernon in der Hauptrolle.

Weitere Vorstellungen von „Steps & Times“: 28. 12. und 4. 1. 2012, jeweils 19:30 Uhr.

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