„Merce II“

Noch ein paar Nachgedanken zum Tod von Merce Cunningham

oe
Stuttgart, 04/08/2009

„Merce“: das klingt ja fast wie Merci. Und das soll es auch! Beim Lesen meines Cunningham-Kommentars online wird mir bewusst, dass ich denn doch zu wenig über ihn selbst gesagt habe, mich zu sehr im Glanze seines Ruhms gesonnt habe. Und das kam so: weil mir beim Erhalt seiner Todesnachricht ganz spontan unsere 1964 zufällige Begegnung bei Edwin Denby in Greenwich Village einfiel. Das war schon ein ganz komischer Zufall. Zwei Tage nach meiner Ankunft in der Neuen Welt – und das war ja doch geradezu ein Schockerlebnis. Da taucht er so ganz plötzlich beim sehr verehrten Altmeister der amerikanischen Ballettkritik auf. Und es ist so, als wenn wir uns gerade gestern zum ersten Mal begegnet wären. Das musste ich jetzt erst einmal genauer recherchieren. Und da half mir prompt Thomas Thorausch vom Deutschen Tanzarchiv vom Köln, dem ich ja seinerzeit meine ganzen frühen Archivmaterialien übereignet habe. Und der stellte fest, dass Cunninghams erster Auftritt (zusammen mit Carolyn Brown als Tänzerin) in Köln am 5. Oktober 1960 in der Aula des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums stattfand, im Rahmen einer Veranstaltung der Künstlerin Mary Bauermeister, die eine Vertraute des Komponisten Karlheinz Stockhausen war.

Eine Veranstaltung, die ich zusammen mit Heinz-Ludwig Schneiders besuchte, den ich gerade zu seinen ersten Versuchen als Kritiker ermutigte (wenn ich mich recht erinnere: noch vor Hartmut Regitz). Und damals sind wir uns wohl zum ersten Mal nicht nur professionell, sondern auch persönlich begegnet, bei einem Lunch zu dritt mit Merce und Carolyn – wie dann später so oft, mehrfach in Köln, wohin er immer wieder gern kam (Köln war ja damals einer der vordersten Plattformen für den modernen Tanz in Deutschland – auch wenn das heute niemand mehr glaubt) und noch später dann in Berlin und Wien (wo er das erste Mal die Serie der „Events“ im Museum für Moderne Kunst ausprobierte) und anderen Städten und eben 1964 auch in New York. Und immer waren es ausgesprochen fröhliche Begegnungen, bei denen viel gelacht wurde, denn Merce war ein sehr humorbegabter Mensch. Und das hat mich kolossal beeindruckt, da er ja ein ausgesprochener Theoretiker war, der schon damals seine ganz bestimmten Vorstellungen über das getrennte Verhältnis von Tanz und Musik hatte, die den meinen geradezu konträr gegenüberstanden. Denn ich war ja ein ausgesprochener Balanchine-Mann, für den Choreografie sozusagen die Architekturskizze der Musik war (und ist). Nie aber habe ich Merce als einen Fundamentalisten seiner Theorie erlebt, der nur seine Meinung gelten ließ.

Das machte den Umgang mit ihm so leicht. Und das bestätigte sich immer und immer wieder, wenn wir uns später begegnet sind, bei ihm in der Schule in Westbeth, bei den zahlreichen Veranstaltungen in der Judson Church (1964 war der Höhepunkt der Judson Church Movement, die Geburtsstunde des postmodernen Tanzes) oder wo immer sich unsere Wege kreuzten. Er war ungeheuer witzig, formulierte kaustisch, und wir haben ungemein viel miteinander gelacht. Und es gab so viele gemeinsame Berührungspunkte. Etwa mit seinen Musikern David Tudor, Earle Brown und später Morton Feldman. Und man traf einander bei vielen Vorstellungen – gerade auch beim New York City Ballet, das seine letzte Saison im City Center absolvierte (Balanchines schrecklicher „Nussknacker“ mit der Ausstattung von Ter-Arutunian, den ich in Grund und Boden verriss, um ihm später bei einer Party zu begegnen, auf der er mich darauf ansprach, überhaupt nicht gekränkt war, sondern mich am nächsten Tag zum Lunch einlud).

Die vielen Vorstellungen in der Met, mit Joan Sutherland, Leontyne Price, Nicolai Gedda, Robert Merrill, Leonard Warren und Cesare Siepi. Der erste amerikanische Auftritt der Beatles in der Carnegie Hall. Aber ich schweife schon wieder ab. Doch das geschieht geradezu zwangsläufig. Kann man sich das heute überhaupt noch vorstellen: vormittags in irgendeiner der Schulen (eben auch bei Merce oder bei Graham oder bei der School of American Ballet, noch vor ihrer Übersiedelung ins Lincoln Center), am frühen Nachmittag dann eine der Matineen am Broadway („Hello Dolly“ mit Carol Channing hatte gerade Premiere und etwas später dann Barbra Streisand als „Funny Girl“), die normale Abendvorstellung dann in der (alten) Met oder beim New York City Ballet, das seine erste Saison im funkelnagelneuen State Theatre hatte, oder ein Konzert der New Yorker Philharmoniker unter „Lenny“ (Bernstein) und hinterher dann oft noch ein Film oder eine Party oder ein fulminantes Abendessen bei Alwin Nikolais und seinem Freund Murray Louis, die beide süperbe Köche waren – und das geschlagene drei Monate lang. Und dann die Reise kreuz und quer durch die Staaten, mit Buffalo, Chicago (mit einer Stippvisite bei Sibyl Shearer, der späteren großen Neumeier-Verehrerin), Denver, den Rocky Mountains, San Francisco, Los Angeles, Las Vegas, Flagstaff mit dem Grand Canyon, Phoenix und Houston Texas, Florida, Key West, Washington sodann auf dem Rückweg zu nochmals zwei Wochen New York und dann Toronto zu Crankos „Romeo und Julia“-Premiere.

Und irgendwo dann immer mal wieder Merce oder Alvin Ailey oder Ruth Page – und in all diesen Städten ein Abstecher in die Ballettschulen und die Begegnungen mit irgendwelchen Senioren, die 1933 Deutschland verlassen hatten und sich nach Wigman, Kreutzberg und Georgi erkundigten! Da gäbe es noch so viel zu erzählen, zum Beispiel von Miami Beach, wo ich bei Mrs. Hefner einquartiert war, der Mutter des Playboy-Chefs, die mich prompt am ersten Abend in den örtlichen Playboy-Club führte, wo mich ein Playbunny aus Düsseldorf empfing, oder von dem Tennessee-Williams-Regisseur, bei dem ich in Key West wohnte, gleich um die Ecke von Hemingway. Kann mir jemand verdenken, dass ich nach wie vor ein unverbesserlicher Amerika-Fan bin? Merci Merce! Merci Amerika!

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