„Lost in the Gap“ von Xie Xin

Abenddämmerung

„Zwielichter“ – Drei Uraufführungen am Ballett Bern

Die drei Choreograf*innen Marioenrico D’Angelo, Lesley Telford und Xie Xin nähern sich dem Thema auf ähnliche Weise. Entstanden ist ein düsterer, aber energiegeladener Abend voller Poesie und Bewegung.

Bern, 27/04/2025

„Schaurig rühren sich die Bäume / Wolken ziehn wie schwere Träume“, heißt es im Gedicht „Zwielicht“ von Joseph von Eichendorff (1815). Im Zwielicht, also in der Abenddämmerung, im Übergang vom Tag in die Nacht, wächst nach Eichendorff die Angst vor einer Bedrohung, die sich in der Natur spiegelt und zu Verlusten führen kann. Von Düsterkeit und Finsternis geprägt ist denn auch der Ballettabend „Zwielichter“, zumindest visuell und atmosphärisch. Die Farben Schwarz, Weiß und Grau sind vorherrschend, es entsteht eine Art clair-obscur, starke Hell-Dunkel-Kontraste, hier mit einer Steigerung von Räumlichkeit und Ausdruck.

Bewegungsmix

Den Auftakt des Abends macht „Night Shining Clouds“ von Marioenrico D’Angelo. D’Angelo war zuletzt als Gasttänzer in Bern zu sehen und hat bereits einige erfolgreiche Erfahrungen als Choreograf sammeln können. Das Stück entstand im Rahmen des Pilotprojekts NEXT STEPS, das jungen Choreograf*innen ein mehrfaches, kontinuierliches Arbeiten mit institutionellen Tanzensembles ermöglicht. Es entspringt einer gemeinsamen Initiative von Bern Ballett, der Tanzkompanie St. Gallen und des Migros-Kulturprozent Tanzfestival Steps.

Als einziger wählte D’Angelo Bühnenobjekte – rundliche, wolkenähnliche Formen, aus denen die sieben Tänzer*innen schlüpfen und schleichen, vor dunklem Hintergrund und mit wenig Licht. Sie alle tragen einheitliche, enganliegende Kostüme in changierenden Pastelltönen.

Der Tanz soll „so schön und so flüchtig“ sein wie das „Phänomen der Eiskristalle, die in der Dämmerung von der Sonne zum Strahlen gebracht werden“. Als junger Choreograf zeigt D’Angelo auf der Suche nach einer eigenen Tanzsprache schon ein gutes Gespür. Gespreizte Bewegungen und weite Armschwingungen auf der Grundlage von neoklassischem Vokabular wechseln ab mit zeitgenössischen Formen bis hin zu Dance-Floor-Bewegungen. Etwas Mühe macht die virulente Musikauswahl, ein Mix von Stilen, mit Stücken von Leonard Bernstein bis Bette Midler. Je nach Musik ändern sich auch abrupt Bewegungsdynamik und Tanzstil, was den Flow des Stückes jedes Mal unterbricht. Alles in allem aber ein sehr eigenständiges, einheitliches und persönliches Stück.

Fließende Übergänge

Nach der ersten Pause folgt „One’s Own Witness“ der Kanadierin Lesley Telford. Zuletzt war sie als Tänzerin beim Nederlands Dans Theater NDT engagiert, wo sie mit Größen wie William Forsythe und Crystal Pite zusammenarbeitete und wo sie auch erste choreografische Werke kreieren konnte. 2013 war sie Stipendiatin eines Forschungsprojekts an der Zürcher Hochschule der Künste. In „One’s Own Witness“ möchte Telford den Grenzbereich von Träumen erforschen, einer Welt zwischen Wissen und Unwissen.

14 Tänzer*innen, in schwarz-weiß-graue Kostüme gekleidet, trippeln vereint in einem Knäuel. Langsam löst sich die Gruppe auf und formiert sich wieder aufs Neue. Das Stück kommt ohne Bühnenobjekte aus, dafür gibt es viel Raum für Bewegungen, mal hektisch, mal versonnen. Ein effektvoller Einfall ist der lange, durchscheinende Vorhang aus schwarzen Fäden, der den Raum in ein Vorne und ein Hinten teilt. Das Hell-Dunkel wird verstärkt durch die gekonnte Lichtregie (Marco Policastro), die einen tragenden Rahmen bildet. Eindrucksvoll ist zum Bespiel der große Lichtkegel von der Decke herab auf die Bühne, indem ein Duo tanzt. Immer wieder verschwinden einzelne Tänzer von der Bildfläche und tauchen wieder auf aus dem Dunkel, alles mit fließenden Übergängen.

Die Musik von vier Komponisten ist gut gewählt und kohärent zu Form und Bewegung. Das Stück ist abstrakt, aber doch immer rührend und berührend. Für beide Stücke gab es großen Applaus des Premierenpublikums. 

Yin und Yang

Mit „Lost in the Gap“ von Xie Xin folgt nach der zweiten Pause das weitere Highlight des Abends. „Lost in the Gap“ heißt für Xie Xin, „sich in einem Moment im Leben zu befinden, der ein ‘Dazwischen’ darstellt“. Ihre acht Tänzerinnen und Tänzer sind in weite, wallende Kostüme gekleidet, die die Gesten betonen und verlängern. Hüpfend und springend lösen sie sich von der Gruppe – nicht unähnlich dem Stück von Lesley Telford – und bilden immer neue Formationen, die Skulpturen ähnlich sind. Die Choreografie ist nach klaren Maßstäben, fast mathematisch aufgebaut. Die einzelnen Szenen gehen kaleidoskopisch ineinander über. Die Duos sind akribisch aufgebaut und doch emotionsgeladen, die Tänzer*innen ergänzen sich zu einem Yin und Yang.

In ihren weißen Kleidern sehen sie aus wie schwebende Kampfkunstsportler, die Bühne in ihrer Askese wirkt wie ein Dojo, der Stätte des Kampfes und der Meditation. Zur Formvollendung trägt die eigens für dieses Stück komponierte Musik (Sylvian Wang) das Ihre bei. Die Chinesin Xie Xin tanzte in der Guangdong Modern Dance Company und leitet heute ihre eigene Kompanie, das Xienxin Dance Theater. In Europa hat sie unter anderen mit Sidi Larbi Cherkaoui gearbeitet, dessen Einfluss in „Lost in the Gap“ durchscheint. Vermehrt interessieren sich europäische Theater mit Recht für die junge Choreografin.

Kompakte Aufführung

Einen Abend mit drei Tanzstücken unter einem Thema zu vereinigen, ist gewinnend. Die noch jungen Choreograf*innen haben eine stringente Vorgabe, an die sie sich halten können, und das Publikum erhält eine kompakte Aufführung mit drei verschiedenen Ansätzen. Allen drei Choreograf*innen ist gemeinsam, dass sie mit ausdrucksstarken Solos und Duos arbeiten. Kraftvolle Hebungen und beinahe akrobatische Drehungen sind zu finden. Die Stücke sind sowohl sinnlich und poetisch, aber immer auch voller Energie.

Diese Freude am Tanz, diese intensive Beschäftigung mit Form und Inhalt einer Choreografie stimmen zuversichtlich für die Zukunft. Es bleibt zu hoffen, dass wir von diesen offensichtlichen Talenten noch viel zu sehen bekommen. Das Bern Ballett unter der künstlerischen Leitung von Isabelle Bischof zeigte sich in Bestform und wurde unter großem Applaus gefeiert.

 

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