Ganz einfach im Fluss bleiben
Die Compagnie Ligna eröffnet das Festival Tanz!Heilbronn mit „Flow“
Tanz! Heilbronn: „Megastructure“ aus Luxemburg und „Taranto Aleatorio“ aus Spanien bilden den Abschluss des Festivals
„Put on your red shoes and dance!“ David Bowies Aufforderung, zum Tanz in rote Schuhe zu schlüpfen, sind Maria del Mar Suárez (La Chachi) und Lola Dolores gern gefolgt. Die Tänzerin und Schauspielerin La Chachi trägt zum lavendelblauen Jogging-Anzug aus Fallschirmseide rote Flamenco-Schuhe; die Sängerin Lola Dolores, schwarze Haare, schwarzer Jogging-Anzug, steckt in roten Turnschuhen. Knallrot sind auch die Lippen. Schuhe wie Lippen symbolisieren Weiblichkeit.
Signalfarbe bitte
In der Blackbox, der dritten Spielstätte des Festivals „Tanz! Heilbronn“, erregt die Signalfarbe Aufmerksamkeit, wenngleich zunächst nicht viel los ist: Beide Performerinnen sitzen auf Klappstühlen, fixieren das Publikum. Die Tänzerin knabbert Nüsschen, wirft die Schalen beiläufig weg. Die Sängerin dreht sich eine Zigarette und presst nasale Laute aus dem fast geschlossenen Mund. So beginnt der „Taranto Aleatorio“ („Zufälliger Taranto“), eine Spielart des Flamencos, die vom risikoreichen Dasein der Bergarbeiter unter Tage erzählt, das Frauen nicht selten zu Witwen macht. Der traditionelle Taranto wird auch von Frauen in Hosen, mit Hut und Stock getanzt. Das Leiden bricht in Vokalisen aus der Sängerin.
Zwischen den beiden Frauen entspinnt sich ein Dialog, der den Machismo, wie er in Spanien unter anderem im umstrittenen Spektakel des Stierkampfs konserviert wird, aufs Korn nimmt und ironisch kommentiert. Ist die „Corrida“ für viele zugleich Kunst und Nationalsymbol, ist sie für die Gegner brutale Tierquälerei. Ob die Cantadora die Stimmen für verwitwete Bergarbeiterfrauen oder misshandelte Tiere erhebt, bleibt im Dunkeln. Sie steigert sich im Laufe des Stückes in welche Leidensgeschichte auch immer dergestalt, dass die eskalierende Tragik an die Grenze der Komik getrieben wird.
Die Tänzerin kontert mit energisch tremolierender Fußarbeit. Bewegungsidiome des Taranto werden zugespitzt, Stakkatos werden zu dröhnendem Donnergrollen. Ein verzweifeltes Trommeln auf den Boden im Vierfüßerstand münden in ein Yoga-Zitat wie die friedliche Katze-Kuh-Übung (Chakravakasana). Und ehe man sich’s versieht, wird ein Flamenco-Move für den Bruchteil einer Sekunde umdefiniert zum sportlich schwungvollen Golf-Schlag.
Das Faszinierende dieses parodistischen Duetts aus Spanien ist, wie fein die Gratwanderung zwischen Gesang und Tanz, zwischen Tragik und Komik ausbalanciert ist. Eine dramaturgische Glanzleistung.
Inszenatorischer Purismus
Keine Musik, keine Lichtshow, keine Glitzer-Kostüme, nicht einmal Klappstühle braucht „Megastructure“ des luxemburgischen Choreografen-Duos Sarah Baltziner und Isaiah Wilson, das die Kuratorin Cenan Erek als Auftakt eines Double-Bill präsentiert. Das Festivalpublikum ist auch von dieser 30-minütigen Choreografie hellauf begeistert, zurecht. Der inszenatorische Purismus verbunden mit klarem choreografischem Konzept, interpretiert von Chiara Corbetta und Wilchaan Roy Cantù brilliert durch Eleganz, körperliche Präsenz und tänzerischen Elan.
Eine Art Demonstration variabler Nähe-Distanz-Relation und ein Lehrstück intrinsischer Motivation ist für den Zuschauer eine Lektion in räumlicher Dramaturgie: Was erzählt mir ein Paar, das sich in einem gegebenen Raum aufeinander zu, voneinander wegbewegt, das seine Gliedmaßen unabhängig bewegt, und ohne dass ein Libretto oder sonst wie geartetes Narrativ zugrunde liegen?
Zunächst tritt die Tänzerin auf, kommt aus dem Foyer, quasi wie eine verspätete Zuschauerin. Sie fixiert das Publikum, als Suche sie jemand Spezielles oder einen bestimmten Platz. Kurz darauf, ebenfalls aus dem Foyer, aber durch die Tür der anderen Ecke des Raums, tritt der Tänzer auf. Sie in zart rosa Langärmelbluse und schwarzer Hose. Er in blaugrauem Hemd und hellblauer Hose, beide tragen weiße Sportschuhe. Zu hören sind nur die Geräusche beim Auftreten, Fallen sowie beim Atmen. Diese natürlichen Geräusche markieren akustisch den Rhythmus, sichtbare Entsprechungen ergeben sich aus dem Wechsel von Interaktion und Pause.
Wie Gliederpuppen, die an Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ erinnern, bewegen sich Tänzer und Tänzerin unabhängig von den Gefühlswogen der Musik oder einem Handlungsfaden, der eine Geschichte oder ihre Beziehung erzählen möchte. Nichts stellt sich der unmittelbaren Rezeption der bewegten und bewegenden Körperlichkeit in den Weg. Auch wird keine bekannte tänzerische Stilistik wie Ballett zitiert. Das Konzept von „Megastructure“ ist skulptural, objektiviert den Körper, er wird zum kinästhetischen Instrument, zu einer beweglichen Skulptur, die vor allem die Möglichkeiten der Gelenke nutzt, um sich auch in skurrilsten Konstellationen fortzubewegen: Hochgeschleuderte Arme bleiben am Hals hängen, beschweren den Fortgang. Beine und Arme verhaken sich ineinander, ein zweiköpfiges, dreibeiniges Wesen probt den Gang, schleppt sich mühsam voran. Oder beide ruckeln sitzend synchron über den Boden, landen in irgendeiner Konstellation, zwei, drei Mal sind sie sich so nah, dass ein Kuss unvermeidlich scheint – unfreiwillige Komik und Slapstick lassen grüßen.
Dieses strukturelle Vorgehen zweier Körper im Raum fasziniert durch seine Unvorhersehbarkeit und überrascht mit einer spielerischen Leichtigkeit, atemraubender Präzision und Gelenkigkeit, die ab und zu die Schmerzgrenze der Zuschauer erreicht. Ein leises „Autsch“ ist zu hören, vermutlich von jemandem, der kein professionelles Tanztraining kennt und dadurch auch nicht mit der Dehnbarkeit, Belastbarkeit und Flexibilität des menschlichen Körpers vertraut ist. Stehende Ovationen und applaudierende Bewunderung auch für diese innovative Präsentation.
Zwei Stücke, zwei Highlights, die trotz großer Unterschiede im stilistischen Verständnis zeigen, welches Potenzial in der Tanz- und Bewegungsrecherche steckt. „Void“ von Wim Vandekeybus wurde als Festivalfinale kurzfristig abgesagt. So endet „Tanz! Heilbronn“, schneller als geplant, in der BOXX - mit nur 200 Plätzen die kleinste Spielstätte des Hauses - nach einem glanzvollen Auftakt mit „Foreshadow“ (Alexander Vantournhout) im Großen Haus und „Chotto Desh“ (Akram Khan) im Komödienhaus.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Bitte anmelden um Kommentare zu schreiben