„Out of Joint“ von Helge Letonja und Gregory Maqoma

Europa und Afrika

Das Festival „Tanz! Heilbronn“ feiert Jubiläum

Seit zehn Jahren kommen internationale zeitgenössische Tanzkünstler in die Stadt am Neckar. Dabei sorgen ungewöhnliche Spielorte, Workshops für tanzinteressierte Laien und Diskussionen mit dem Publikum für einen vielgestaltigen Festivalverlauf.

Heilbronn, 29/05/2018

In diesem Jahr konnte das Festival „Tanz! Heilbronn“ ein Jubiläum feiern. Seit zehn Jahren kommen internationale zeitgenössische Tanzkünstler in die Stadt am Neckar. Dabei sorgen ungewöhnliche Spielorte, Workshops für tanzinteressierte Laien und Diskussionen mit dem Publikum für einen vielgestaltigen Festivalverlauf. Karin Kirchhoff, die Kuratorin von „Tanz! Heilbronn“ hat auch in diesem Frühjahr ihr besonderes Gespür für Themen und außergewöhnliche Projekte im zeitgenössischen Tanz bewiesen.

 

In Verbindung – Jetzt!

 

Kooperationen zwischen Afrika und Europa haben in diesem Jahr bei „Tanz! Heilbronn“ den Blick geöffnet und die Wahrnehmung für die beiden Kontinente geschärft. Mit „Out of Joint“, dem Eröffnungsstück des Festivals, gelingt der Einstieg in das transkulturelle Thema ohne Umschweife. Denn schon in seinem Titel klingt etwa an, was die anderen Stücke ebenfalls auf jeweils andere Weise verhandeln. Etwas ist nicht mehr in der richtigen Verbindung, ist ausgekugelt (out of) wie ein Gelenk (Joint). Im übertragenen Sinn spricht der Titel über ein Befinden, das „aus den Fugen“ geraten ist und sich nicht mehr im Gleichgewicht befindet. So wirft „Out of Joint“ von Helge Letonja und Gregory Maqoma einen langen Schatten, der schmerzhaft ist wie ein ausgekugeltes Gelenk, und der uns zu denken gibt.

„If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge?“ Aus William Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ stammen diese Sätze, die von den sechs Tänzern gesprochen werden. Vor dem Bühnenhintergrund, der die Struktur eines Gewebes zeigt, bewegen sie sich bald von rechts und links aufeinander zu, bald als Knäuel in einer Gruppe, bald vereinzelt. Sie verhandeln in ihren Bewegungen und in den Sätzen sowie in der komplexen Komposition von Serge Weber eine Essenz aus den verschiedensten Konflikten, die zwischen Afrika und Europa ausgefochten werden: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“ Die Tänzerin Mariko Koh läuft über die Bühne als wäre sie von etwas gestochen worden, wild schleudert sie ihre Arme, geht zu Boden, verrenkt ihren Körper, ist getrieben von etwas, das sie am Ende niederschlägt. Auf der Soundspur lassen sich erst sirenenartige Geräusche vernehmen, die schließlich in Gewehrsalven übergehen. Aus dem Gleichgewicht sind alle Bewegungen in eine Schräglage geraten, in ein Straucheln oder wie am Ende des Stücks in ein unaufhörliches Zittern am ganzen Körper. Von Rassismus, Korruption, Wut, Hass, Angst, Ohnmacht, Verletzung und Verklärung ist das Gelenk, das Afrika und Europa verbindet, gezeichnet. Es droht, aus seiner Verankerung zu reißen, es ist „Out of Joint“.

Viel steht auf dem Spiel. Was wir bereits verloren haben, ist ein Gleichgewicht. Erst mit Blick auf das Ganze und in der Summe aller Schräglagen wird es als ein äußerst sensibles Verhältnis offensichtlich. Eine Möglichkeit ins Lot zu bringen und ein Gleichgewicht zu schaffen zeigen die transkulturellen Projekte von steptext dance unter der Leitung des in Bremen ansässigen Choreografen Helge Letonja. 2014 hat er mit seinem Team das Festival „Africtions“ ins Leben gerufen und den zeitgenössischen afrikanischen Tanz in ein europäisches Blickfeld gerückt. Daraus sind Verbindungen entstanden, die auch zu „Out of Joint“ geführt haben. Zusammen mit Gregory Maqoma, dem Begründer des Vuyani Dance Theatre in Johannesburg, bildet Letonja ein Choreografen-Team. Während Letonja seinen Arbeitsort nach Johannesburg verlegt, kommt sein Kollege Maqoma von dort nach Bremen. Beide haben sich auf die Arbeit mit den Tänzern vor Ort eingelassen, auf andere Mentalitäten und ungewohnte Strukturen. Und sie sind das Wagnis eingegangen, sich einer anderen Kultur mit einer anderen Bewegungsgeschichte anzuvertrauen. „We need to be brave. To trust the other is to trust ourselves“, erklären die beiden Künstler ihr Projekt.

 

Gesellschaft aus dem Gleichgewicht

 

Auf dieses gleich gewichtete Vertrauen baut auch ein weiteres Projekt, das für die zweite Auflage von „Africtions“ 2018 ins Leben gerufen wurde und mit einigen Partnern in Deutschland, darunter auch „Tanz! Heilbronn“, realisiert werden konnte. „The Choreonauts – Afro-European Navigation in Dance“ versteht sich als eine Plattform für Tandems zwischen Choreografen aus Afrika und Deutschland, die ihre Werke im Land des afrikanischen Partners und mit den Ensembles dort vor Ort erarbeiten. „Sans Titre“ von Nadia Beugré aus Abidjan von der Elfenbeinküste handelt von den Erwartungen und Enttäuschungen der Jugendlichen in der Millionenstadt Abidjan. Ihre von Spiel, Witz und abgründigen Überraschungseffekten durchzogene Choreografie basiert auf Interviews mit der jungen Bevölkerung ihrer Heimatmetropole. So sieht das Publikum etwa einen Ball in die Luft fliegen, der Werfer ruft dabei einen Namen, während die Gerufene den Ball fängt und wieder in die Luft wirft. So geht das Spiel zwischen einer Gruppe aus vier Tänzern. Bis der Ball in den Zuschauerraum fliegt. Jetzt ist er auf unserer Seite. Und jetzt ist es auch unser Spiel.

Immer wieder kippt in „Sans Titre“ ein heiter begonnenes Spiel in Aggression und Perspektivlosigkeit unter den Akteuren um. Alles, was Beugré in ihrer Arbeit „Ohne Titel“ – denn der ist überflüssig – erzählt, lässt sich auch mit eigenen Erfahrungen verbinden. Etwa, wenn eine gemeinschaftliche Aktion durch eine Störung oder ein leichtes Ungleichgewicht ihren Fluss einbüßt, so dass die Stimmung kippt und sich die Mitglieder der Gruppe plötzlich vereinzelt finden. Gleichzeitig lenkt die Künstlerin damit den Blick auf ihre Heimat, die ihr Gleichgewicht verloren hat. Im anschließenden Publikumsgespräch verweist Beugré auf die fehlende Bildung der jungen Leute in ihrer Heimat. Dieser Mangel führe, so sagt sie, ins Ungleichgewicht und in eine Gesellschaft ohne Zukunft.

Anders verhandelt ihre Tandem-Partnerin aus Berlin, Renate Graziadei, das Verhältnis zwischen Gleich- und Ungleichgewicht. In „Chaotic Order – A blink of an eye“ zeigt die nach Abidjan gereiste Choreonautin die vier afrikanischen Tänzer bald dynamisch in der Gruppe, bald verhaltener im Duo oder vereinzelt und bei sich. Dabei erzeugen die Tänzer den Rhythmus des Lebens oder eines Tages oder einer Situation. Und im Wechsel von einem Moment auf den anderen zeigen sie gleichzeitig, wie abrupt alles vorbei sein kann. So leicht, wie die Beziehungen untereinander geknüpft werden, so leicht können sie unterbrochen werden, und das Gleichgewicht ist dahin. Graziadei hat ihrer Choreografie einen subtilen Soundtrack auferlegt: „… every person can play a role in your life that change the dynamics of everything …“, heißt es zu Beginn aus dem Off mit einem Text von Iyeoka Ivie Okoawa über die fragilen Zusammenhänge des Lebens. Und mit den zurückgenommenen Sounds eines vergangenen Tages endet das fein gestrickte Werk.

 

Der Weltenvogel sieht alles

 

Wie sich eine aktuelle politische Situation zwischen Europa und Afrika mit Figuren aus der antiken griechischen Mythologie und der afrikanischen Tradition sowie einer persönlichen Geschichte verweben lässt, zeigt die neue Arbeit von Germaine Acogny. Zusammen mit dem deutsch-französischen Regisseur Mikaël Serre hat die aus dem Senegal stammende Tänzerin, Tanzforscherin und Pädagogin ihre Biografie in einen größeren Kontext übersetzt. „Somewhere at the beginning“ nennt sie das vielgestaltige Werk, das sich der Medien Tanz, Text, Video und Sound bedient. Auf der kargen Bühne liegen ein Kissen, ein Gefäß, ein Stein und ein Buch. Dahinter trennt ein Vorhang aus feinen Fäden den Vorder- vom Hintergrund. Es sind die zwei Ebenen – die Vergangenheit und die Gegenwart, die Tradition und die Moderne – durch die Germaine Acogny im schwarz-grauen langen Kleid wie eine Priesterin wandelt. Auf diesem durchlässigen Vorhang flirren Bilder, Filme und Texte wie Zeugnisse der Geschichte, die hier erzählt wird. Wir sehen das Gesicht der Großmutter Aloopho, eine Yoruba-Priesterin, und wir hören Acogny von ihr erzählen. Eine fantastische Geschichte von der Python als Fetischtier, von den Opfermessern, deren Macht sich nur von Frau zu Frau überträgt und die ihr der Vater, Togoun Servais Acogny, nicht aushändigen will. Wir sehen das Konterfei des Vaters in Uniform. Und wir hören Acogny von ihm berichten, mit Nachdruck und Vehemenz schildert sie seine Abkehr von der Tradition, seine Hinwendung zum Christentum und zur Modernität der französischen Kolonialherren. Wir sehen ein Bild, ein Fenster. Es ist Pfingsten und es ist die Geburt von Germaine Acogny – die Rückkehr der Mutter. Das ist die eine Ebene im Stück, sie erzählt von der langen animistischen Tradition, in der sich Acogny ebenso beheimatet fühlt wie in der modernen Welt. Sie erzählt hier auch von dem großen Konflikt mit ihrem Vater, der seine Wurzeln gekappt hat.

Auf einer anderen Ebene rückt Acogny in ihrer Erzählung die Figur der Medea ins Spiel. Es ist ein abendländischer Mythos, der, betrachtet man das gesamte Werk, sich in ein direktes Verhältnis zur Tradition des Morgenlands setzen lässt. Europa und Afrika im Konflikt, der sich aufspalten lässt bis in die persönlichsten Erzählmuster. Hier ist alles im Konflikt: vom eigenen Lebensweg bis hin zum großen Weltgeschehen. Acogny wagt diesen persönlichen Zugriff und erschafft damit ein grandioses Geflecht, das eine ganze Welt umspannt und große Zeiträume entwirft. In der Kindsmörderin Medea steckt auch die Migrantin, die mit ihrem Gemahl in die Fremde zieht. Es steckt aber in Medea neben der später verlassenen und verratenen Ehefrau auch eine Wut-Figur. Sie rächt sich an allen für das, was man ihr angetan hat. Und wenn Acogny als Medea dem Publikum ihre Kinder für einen Euro feilbietet, ist das in diesem Moment auch die Geschichte, die vor unserer eigenen Haustür spielt. Lassen wir die Flüchtlinge – die Kinder Afrikas – herein oder müssen sie draußen bleiben? Die Antwort gibt Acogny mit Jonny Cash in einer weiteren grandiosen Szene, wenn sein Song „Hurt“ erklingt und sie dazu tanzt. „I hurt myself today – To see if I still feel – I focus on the pain – The only thing that's real …“. Acogny verschwendet keine Bewegung. Vielmehr setzt die jetzt 74 Jahre alte Künstlerin des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes jede Ausdrucksform, sei es ihre Stimme oder ihre Körpergesten, präzise in den Raum.

Am Ende tritt sie hinter dem Vorhang als Vogelwesen in Erscheinung. Ist sie der Weltenvogel, der alles sieht? Doch der Vogel bleibt nur für einen Moment. Acogny streift die Maskerade ab und windet sich um einen leeren herrschaftlichen Stuhl. „Vater, ich bin deine Mutter – ich taufe dich und vergebe dir.“ Das sind die letzten Textzeilen, die der Vorhang preis gibt. Acogny ist die Tochter, die zurückkehrt. Sie ist in der animistischen Tradition ihrer afrikanischen Heimat als Tochter zugleich auch immer die Mutter. Aber sie ist auch eine Weltbürgerin mit vielen Verbindungen zwischen Europa und Afrika. Als Muselmanin, Christin und Animistin fühle sie sich, das erklärt sie im anschließenden Gespräch, drei Religionen verbunden. Und es mache sie stolz. Erklärt das aber nicht auch ihr besonderes Vermögen, Konflikte zu erkennen, sie künstlerisch zu verarbeiten und uns an ihrem Wissen und Vermächtnis teil haben zu lassen?

 

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