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„ON MY WAY HOME“ von Lucia Oiro und Reinaldo Ribeiro beim Kölner Sommerblut Festival
Von Charlotte Spahn
Der Ziegelstein schwebt. Die Performerin Tatiana Meija balanciert nicht nur ihn auf ihrem Kopf, sondern auch selbst auf einem quaderförmigen Turm aus auf einer Palette lose aufgestapelter, braunroter Ziegelsteine. Ihr Blick ist sanft, aber bestimmt, dazu winkt der Arm elegant und bedächtig. Ein wenig erinnert die Geste an den berühmten Gruß der Queen und löst weitere Assoziationen aus: der Ziegelstein – eine Krone? Der Turm – ein Thron oder sogar das kolonialisierte Land?
Die fließenden Bewegungen pausieren abrupt, die Ziegelsteinkrone wird abgenommen. Plötzlich geht der Blick starr ins Leere. Von den Fersen beginnend, fängt Meija an zu bouncen, erst langsam, dann immer schneller und stärker. Der Turm unter ihren Füßen bröckelt, die vibrierend aneinanderreibenden Steine liefern eine klappernde Geräuschkulisse. Fast schon bricht alles zusammen, da kommen zwei andere Performer*innen unterstützend hinzu. Zu dritt rütteln alle mit Händen und Füßen weiter an den Mauern, schmeißen sich auf allen Vieren kniend dagegen.
Das 24. Kölner Sommerblut Kulturfestival hat sich das Motto „democracy needs you“ gegeben. Das Festival ist bekannt dafür, aktuelle politische Fragen zu stellen und im Spielplan marginalisierten Stimmen eine Bühne zu geben. „ON MY WAY HOME“ lässt sich darauf auf vielerlei Weise beziehen und bewegt Fragen von Identität, Widerstand und Dekolonisierung. Unter der Leitung der Künstler*innen Lucia Oiro und Reinaldo Ribeiro performen zehn BIPoC-Künstler*innen (Taiwo Ojudun, Tatiana Meija, Dessa Ganda, Nadine Ndungula Kraus, Sakina Mouhammed, Laura Schönlau, Duutop Acustic, Judith Alice Harder, Josè Manuel Da Costa Pedro sowie Ribeiro selbst), verbindet die Hybrid-Performance Tanz, Musik, Film – und Ziegelsteine.
Raumgreifende Dekonstruktion
Nach den Ziegelsteinen ist der Rest des Raumes an der Reihe: Die alten (Macht-)Strukturen und die anfangs im Sinne einer Ausstellung klassische Anordnung der Performance im Museumsraum werden aufgebrochen. Es geht zu wie auf einer Baustelle. Aus den Steinen entstehen neue Formen: Türme in verschiedenen Größen oder eine lückenhafte Reihe, die Dominosteinen gleicht.
Die Stimmen eines Paares sprechen aus einer Videoinstallation mit Bildern von einem Acker und Bäumen. Die Frau erzählt traurig und frustriert, dass ihrem Mann das Visum zur Reise mit ihrer kleinen Tochter von Kenia nach Deutschland zum Rest der Familie verweigert wurde. Der Mann teilt die Frustration darüber, dass der Westen sich, um die Kontrolle über die so genannten „Dritte-Welt-Länder“ zu behalten, als Ort der Möglichkeiten darstellt, aber dabei vor allem auch verhindert. „Immigration“, so heißt es, werde zu einer Waffe, die mit Stolz und Geld einhergeht. Beide Eltern haben einen unterschiedlichen Pass, nur die gemeinsame Tochter hat beide. Doch wo ist dann ihre Heimat?
Am Ende bauen alle gemeinsam
Warum werden Menschen immer noch auf Grund ihrer Herkunft eingeordnet, bewertet und behandelt und dabei von starren Wertungen und gewaltgeladenen Geschichten verletzt? Das Bauen geht weiter. Ziegelstein für Ziegelstein. Die Sicht auf dieses einfache Material hat sich am Ende der Performance gewandelt. Ja, sie können ein solides Fundament bilden, aber im nächsten Moment auch in sich zusammenstürzen oder sogar zu feinem rotem Staub zerfallen. Der Blick durch die Löcher in den temporären Konstruktionen bietet immer wieder eine neue Perspektive auf die Dinge. Zudem sind die Steine nicht nur Baumaterial, sondern auch Klangkörper: Die Performenden setzen sie als Musikinstrumente ein, reiben sie aneinander, klopfen einen perkussiven Klangteppich.
Stein für Stein, Verschiebung für Verschiebung verlagert sich die Performance allmählich in das Foyer. Der Auszug aus dem klassischen Museumraum stellt die koloniale Setzung des ‚Dispositivs Museum‘ in Frage. Die Bewegung zeigt die Vielschichtigkeit diasporischer Bezüge zu ’Heimat‘. Es entsteht ein letzter Turm. Von da aus legen die Performenden ihre eigenen neuen Wege in Form von einer Linie aus. Sie balancieren, kommunizieren pfeifend, eine Melodie wird angestimmt, in die die anderen nach und nach einsetzen. Vielstimmigkeit hallt durch den Raum, nimmt die Zuschauenden mit in einen gemeinsamen Rhythmus und lädt alle ein, mitzubauen. Die Ziegelsteine sind das verbindende Element. So bauen wir das letzte Stück Weg zum Ausgang des Museums in einer Gemeinschaft von Performer*innen und Publikum.
Die große Qualität von „ON MY WAY HOME“ besteht darin, Fragen zu Identität und (De-)kolonialen Strukturen in ihrer Vielschichtigkeit zu bearbeiten, aber gleichzeitig so herunterzubrechen, dass das Publikum gebannt durch die Performance und den Raum des Museums folgt. Die Ziegelsteine werden dabei zu handgreiflichen Metaphern für ein System, das sich als gar nicht so stabil und unverrückbar erweist, wie es scheint. Mehr noch als um Dekonstruktion geht es aber darum, gemeinsam neue Erzählungen zu bauen, und das gelingt an diesem Abend auf berührende Weise. Einfach so demontieren lassen sich die kolonialen Ziegelstein- und Denktürme zwar nicht, aber wir können neue und andere Richtungen einschlagen. Zusammen.

Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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