„Le Sacre du printemps“ von Annett Göhre, Tanz: Ensemble

Schubs aus der Komfortzone

„Le Sacre du printemps“ von Annett Göhre am Theater Ulm

Die Choreografin nimmt in ihrer geglückten Umsetzung von Igor Strawinskys Musik das Publikum in die Pflicht, nachzudenken – über Opferrituale an sich und die eigene Bereitschaft, für die Allgemeinheit etwas zu opfern.

Ulm, 20/04/2025

Mut hat sie, die choreografierende Ulmer Tanzspartenleiterin Annett Göhre. Und sie hat keine Scheu davor, mit ihrem Ensemble von nur zehn Tänzerinnen und Tänzern auch große Themen anzupacken. Dabei weiß sie sich stets mit einer Nuance kluger Eigenwilligkeit zu behelfen, um die Herausforderung, lediglich eine begrenzte Ensemblemasse zur Verfügung zu haben, schlüssig ins Positive zu wenden. Nach „Romeo und Julia“ im vergangenen Jahr feierte am Theater Ulm nun ihre archaisch durchstrukturierte Umsetzung von Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ Premiere. Zeitgleich fand beim Bayerischen Staatsballett die Einstudierung von Pinas Bauschs vor 50 Jahren uraufgeführtem wuchtigen Gruppenstück für 32 Tänzerinnen und Tänzer „Das Frühlingsopfer“ statt. In ihrer Gegensätzlichkeit zwei auf völlig unterschiedliche Art fesselnde Interpretationen.

1913 hatte Strawinskys „Sacre“ zum einen wegen der rhythmisch schwierigen und als „schräg“ empfundenen Ballettmusik, zum anderen aufgrund der vermeintlich primitiven Choreografie von Vaslav Nijinsky für Aufruhr und Schlagzeilen gesorgt. Zum Glück tempi passati. Neue bildstarke und inhaltliche Akzente für das bahnbrechende Werk zu finden, wünschen sich früher oder später wohl die meisten zeitgenössischen Tanzschöpfer. Vaslav Nijinsky, Maurice Béjart, Pina Bausch oder John Neumeier haben prägende Versionen mit individuellen Merkmalen hinterlassen. In den letzten Jahren folgten ihnen Choreografen wie Goyo Montero, Edward Clug oder Stephan Thoss. Die Liste an aktuellen Fassungen wächst ständig. Allein in München soll in diesem Sommer noch Jeroen Verbruggen eine weitere „Sacre“-Version für das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz auf die Bühne bringen.

Während dem 35-Minüter zumeist ein oder zwei weitere Stücke zur Seite gestellt werden, hat man sich in Ulm bewusst gegen diese Gepflogenheit entschieden. Stattdessen hat Annett Göhre ihrer Produktion, die inhaltlich zwar der ursprünglichen szenischen Unterteilung folgt, insgesamt aber auf einen gesellschaftskritischen Ansatz abzielt, durch einen eigens hinzukreierten Prolog mit Musik von Ottorino Respighi zum pausenlosen Einstünder ergänzt. Dass das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm unter der Leitung von Generalmusikdirektor Felix Bender sowohl Respighis kaum je für Tanzprojekte verwendete dreiteilige Komposition „Trittico Botticelliano“ als auch Strawinskys „Sacre“ in der reduzierten Orchesterbesetzung von Jonathan McPhee mit großer Eindringlichkeit live spielt, wertet den Abend zusätzlich auf.

Das auf Stimmungen und Bühnengeschehen fein abgestimmte Begleiten der Musiker fällt insbesondere in jenen Passagen ins Gewicht, in denen sich die Choreografin durch eine Geometrie klarer Raumwege und Bewegungslinien der treibenden Dynamik von Strawinskys Musik fast zu widersetzen scheint. Emotionale Hektik, unkontrolliertes Chaos oder wildes Durcheinander will sie da in ihrem tänzerischen Fluss gar nicht erst aufkommen lassen. Anders als bei Bausch agieren ihre Interpreten viel weniger bloß aus dem Bauch heraus. Sie scheinen sogar motorisch bestimmten Regeln zu folgen, die einzuhalten oder nur verhalten aufzubrechen es über weite Strecken gilt.

Göhres Hinterfragen einer Notwendigkeit von Ritualen und ihre Auseinandersetzung mit der Opferfrage beginnen schon im Foyer. Auf einer großen weißen Tafel wird das Publikum zum Mitmachen aufgefordert: „Stimmen Sie ab! Was sind sie persönlich bereit, für die Allgemeinheit zu opfern?“, steht dort geschrieben. Dazu gibt es blaue Bälle, die man in Röhren aus Plexiglas werfen soll. Fünf diskutierbare Optionen stehen zur Wahl: „Wohlstand und Sicherheit“, „Erfolg und Karriere“, „Gesundheit und Wohlbefinden“, „Urlaub und Freizeit“, „Liebe und Freundschaft“. „Ein Opfer muss wichtig sein, es muss weh tun“ – meint Göhre in ihrer kurzen Einführung vor der Premiere. Ob die Personifikation weiblich oder männlich sei, spiele letztlich keine Rolle, weshalb sich Göhre für beide möglichen Varianten entschieden hat. Inwieweit die Zuschauer durch ihr Abstimmungsverhalten im Foyer hierauf wie auf den Ausgang des Stücks Einfluss nehmen, bleibt allerdings offen.

Vereinsamung, Verluste, Sich-Verlieren oder Verloren-Sein

Am Uraufführungsabend wird das Publikum durch eine choreografische Hinführung auf das nachfolgende Opferritual eingestimmt. Da Casey Hess und Edoardo Dalfolco Neviani verletzungsbedingt ausgefallen sind, haben Adrián Ros Serrano und Yu Yamani als Gäste deren Rollen übernommen. Thema ist nun das Verlieren und Verloren-Sein – von etwas oder sich selbst. Die Bühne bleibt nüchtern schwarz. Nur das Licht verändert sich, wobei die unterschiedlichen mobilen Leuchtquellen jederzeit gut sichtbar eingesetzt werden. Die Tänzerinnen und Tänzer treten in bunter Alltagskleidung auf. Dazu tragen sie schwarze allwettertaugliche Boots.

Man bewegt sich gemeinsam als Gruppe. Einzelne fallen hin. Dann verteilen sich wieder alle über die Bühnenfläche. Kurzzeitig fährt ein Gestänge mit Scheinwerfern herab. Kleinere Grüppchen bilden einen Bewegungskanon. Die Protagonisten laufen suchend umher. Blicke schweifen über den Boden, Hände versuchen etwas zu fangen. Man sieht Finger, denen gerade etwas entglitten zu sein scheint. Später wird ein Lichtkranz herabgesenkt. Im runden Lichtschein darunter tanzen drei der Interpreten. Solistische Einlagen im Wechsel folgen. Der Rest bewegt sich mehr oder weniger beobachtend auf Abstand und verlässt den Raum zwischendurch. Paare bilden sich. Ein Mann und eine Frau fusionieren im Duett. Sie umarmen sich und ziehen sich behutsam gegenseitig die Schuhe aus.

Das scheint ein Signal an alle außerhalb des zentralen Lichtspots zu sein. Man kehrt in die Sichtbarkeit auf der Bühne zurück. Weitere Mitwirkende legen ihre Schuhe ab und treten nach und nach in die Mitte. Der Kreis wächst. Alle gehen in die Hocke und setzen sich nahe zueinander. Ein Körper aus ihrer Mitte wird in die Höhe gehoben. Einige solcher choreografischen Motive finden sich – anders herausgearbeitet – später im „Sacre“ wieder. Lediglich zwei der Protagonisten harren im Abseits aus, bis sich das zehnköpfige Kollektiv noch einmal im gesamten Raum verteilt synchronisiert. Jeder wird einzeln von einem Scheinwerfer erfasst. Von denen gehen alle – bis auf einen links vorn – wieder aus. Die im Licht verbliebene Tänzerin beugt ihren Oberkörper vornüber und lässt ihre Arme schwingen. Wieder und immer wieder. Die anderen stoßen zu ihr. Gemeinsam beginnen sie Takt für Takt laut mitzuzählen. Es wird dunkel. Die Musik verstummt. Zu hören bleibt nur das hartnäckige Zählen.

Dieser lautmalerische Übergang dient bei offenem Vorhang als Umbaupause. Zugleich ist er ein Bindeglied zwischen Prolog und Hauptstück, das blinde Geduld einfordert. Einige Zuschauer beginnen nervös-ungeduldig zu klatschen. Doch durchgezählt wird stur bis Takt 65. Erst danach ist die Verwandlung komplett.

Ein Opferritual, das Mauern sprengen soll

Ein Wald aus Lichtern schält sich aus der Dunkelheit. Hinter jedem Lichtstrahl verbirgt sich ein Tänzer. Alle tragen jetzt uniform dunkelgraue, an der Vorderseite hochgeschlitzte Kleider mit blauem Innenfutter und am rechten Arm lange satinblaue Handschuhe. Später wird im Hintergrund eine hohe Wand aus großen Steinquadern erkennbar. Ein herrschaftliches Architekturelement mit jahrhundertealter Anmutung. Die Ausstattung von Annett Hunger und Göhres Choreografie greifen im „Sacre“ wortwörtlich ineinander. Sie verschmelzen zu einer ästhetischen Einheit, die am Ende effektvoll demontiert wird.

Die lose Gemeinschaft der Menschen aus dem Prolog hat nun eine Aufgabe zu bewältigen. Sie haben ihre Individualität aufgegeben und sich einer nicht genauer definierten äußeren Obrigkeit untergeordnet. Ort und Kostüme wirken irgendwie befremdlich, wie aus der Zeit gefallen. Etwas Unvertrautes, Autoritäres schwingt darin mit. Erst schlängelt sich nur ein behandschuhter Arm ins Licht. Bald sind es zehn. Langsam gibt das Licht mehr und mehr von den Körpern preis. Die Männer und Frauen bewegen sich in Formationen, gehen im Kreis, drehen sich dabei um die eigene Achse. Paare queren die Bühne. Sie interagieren in Hebungen. Einer der Tänzer springt vier Frauen in die Arme und wird fortgetragen. Gemeinsam fällt man auf die Knie. Hände werden gefaltet, Köpfe berühren den Boden. Die Tänzer sinken bei ihrer Anbetung der Erde aber auch breitbeinig ins Plie und führen ihre Handflächen anmutig über dem Kopf zusammen.

Nach Geschlechtern sortiert wird in Reihen getanzt und kurz darauf Konflikte in bunt gemischten Paarkonstellationen ausgetragen. Irgendwann ballt sich jedoch alle Energie zentral in einer großen Gruppe. Man marschiert, gerät momentweise außer Rand und Band, so richtig emotional aus der Haut fährt indes niemand. Als die Musik einen Augenblick innehält, heben alle die Arme. Ein durchsichtiger Vorhang fällt. Das Ensemble ist plötzlich zwischen transparentem Hänger und massiver Rückwand eingesperrt. Unsicherheit macht sich breit. Via Projektionen und einer Stimme aus dem Off werden die Tänzerinnen und Tänzer mit den im Foyer zur Abstimmung ausgeschriebenen Möglichkeiten konfrontiert, zum Wohle aller durch ein persönliches Opfer beizutragen.

Die meisten Zuschauer hatten im Vorfeld für den Verzicht auf „Erfolg und Karriere“ plädiert. Nun schickt – der Zufallsgenerator oder eine KI? – Alba Pérez González in dieser allerersten „Sacre“-Vorstellung per Namensprojektion in den Opfertod. Die nicht von den eigenen Bühnenpartnern, sondern fremdbestimmt ausgewählte Tänzerin findet sich solistisch innerhalb einer verschworenen Gemeinschaft wieder. Das Ritual, zu dessen Mittelpunkt sie geworden ist, nimmt seinen Lauf. Man reißt ihr das Gewand vom Körper und beschmiert sie mit blauer Farbe. Die Wand fährt vor. Der Platz um sie herum wird enger.

Angesichts solcher Ausweglosigkeit steigern sich bei Alba Pérez González’ innerlich aufgewühltem Tanzen Verzweiflung und Schrecken. Nach und nach brechen hinter ihr Steinplatten aus der Wand. Die Mauer zerfällt. Zurück bleibt ein metallener, sonnendurchlässiger Skelettbau, hinter dem sich die Gruppe der Verschonten am Ende freitanzt, während die Geopferte davor mit einem Gurt um die Hüften an einem Seil hochgezogen wird. Was für ein Finale! Als mahnender Appell zur Selbstlosigkeit brennt sich dieses Schlussbild in die Netzhaut. Allein der ultimative Schockeffekt durch den zu erwartenden Absturz, der erst zum sicheren wie sichtbaren Tod des Opfers führen würde, bleibt aus.

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