Ein mutiges Gesamtkunstwerk
Umjubelte Premiere von „Mozart_Requiem: Selig sind die Toten“ am Staatstheater Kassel
Die aztekische Totenkopfpfeife ist ein verstörendes Ding. Sie bringt Töne hervor, die wie ein menschlicher Schrei klingen. Ihre genaue Funktion ist noch etwas spekulativ, ihre Wirkung aber selbst für die Forschung inzwischen unumstritten. Davon kann man sich bei „Celebration“ selbst überzeugen. Bis einem aber durch diesen Ton das Mark in den Knochen gefrieren, hat das Ensemble von TANZ_KASSEL ordentlich abgefeiert. Nur halt nicht im Sinne von „Let’s party!“. Obwohl die Tänzer*innen dazu explizit aufgefordert werden.
In einem Raum, der durch kleine Lampen in geraden Linien wie eine Arena abgegrenzt ist, steht seitlich ein Screen. Von dort aus gibt eine etwas schief generierte KI-Frau hohle Phrasen von sich gibt (Video: Ohad Fishof). Die wohl bewusst nicht ganz ausgereifte Animation wirkt seelenlos und spuckt genau in dieser Manier Sätze aus, die aus oberflächlichen Popsongs der guten Laune stammen könnten. „Celebrate your life!“ Was immer das heißen soll.
In schlichten weißen Einteilern, knielang, bequem, arrangieren sich die Tänzer*innen paarweise. Ihre Gesten sind stark voneinander isoliert, fast als konkret lesbar. Durch variierte Wiederholungen entsteht ein Gefühl von Ritual. Aber feiern? Was spürbar wird, ist der Eindruck einer eingeschworenen Gemeinschaft, in der sich alle gemeinsam einer Sache widmen. Was immer das auch sein mag. Eindringlich, in sich wiederholenden Loops, konzentriert und mit Hingabe. Sie zeigen damit zwar etwas, teilen sich aber nicht mit. Kommt einem bekannt vor? Ja, das schmeckt ganz eindeutig nach dem Batsheva-Ansatz. Und dem ist auch wirklich so: Die Choreografin Noa Zuk hat jahrelang unter Ohad Naharin getanzt.
Gesellschaftliche Erwartungen
Unter dem mehr oder minder forschenden Blick des KI-Wesens absolvieren die Tänzer*innen ihr Programm, als gälte es, alles richtig zu machen. Nicht im künstlerischen Sinn, sondern in der Art der Erfüllung einer gesellschaftlichen Erwartung. Künstlerisch gesehen ist die Riege sowieso top. Und choreografisch funktioniert das auch ganz wunderbar. Thorsten Teubl, Direktor TANZ_Kassel, legt großen Wert darauf, dass zwischen (Gast-)Choreograf*innen und dem Ensemble die Chemie stimmt. Dafür gabs für alle im Vorfeld einen Workshop, natürlich auch mit Naharins Gaga-Methode. Und ganz offenbar ging die Sache auf.
Das Ergebnis ist nicht nur durch sein augenscheinlich verrätseltes Vokabular vor allem der Arme und Hände schlüssig. Der choreografische Ansatz an sich fällt zeitgemäß aus und lässt jeder Tänzerin und jedem Tänzer ausreichend persönlichen Raum. Sei es in Solos oder Duetten, immer wieder wird ihre jeweilige Individualität sichtbar. Das lässt das Publikum gut andocken, denn konzeptionell kommt das Rätselhafte dieser Arbeit auch noch etwas sperrig und damit alles andere als einfach daher. Dramaturgisch flutscht das einstündige Stück, schlägt aber immer wieder Haken auf seinem Zickzackkurs. Die Sounds von Ohad Fishof zerhackstücken das eher, als dass sie gliedernd wirken würden. Von digitalem Ticken über blödsinnig wirkendes Gebimmel bis hin zu gebetsartigen Gesängen kippt die Stimmung immer wieder in eine andere Richtung und bleibt oft unklar. Zur Premiere gabs im Publikum immer wieder verhalten einzelne Lacher.
Der Mensch müht sich ab
Es hat aber auch etwas Skurriles, wie sie sich da auf der Bühne so abmühen, als gäbe es was zu gewinnen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: In einer Szene tanzen nur die Männer, so lange, bis sie schließlich tot umfallen und von den Frauen von der Bühne geschleppt werden. Und darum geht’s eben. Das KI-Wesen gibt schließlich vor, langsam zu verstehen, was hier abgeht: „They are a person.“ Von außen betrachtet kann es sicherlich recht drollig wirken, wie der Mensch sich so den lieben langen Tag abstrampelt. Aber ob KI das auch nur in Ansätzen nachvollziehen kann oder jemals dazu in der Lage sein wird, darf wohl entspannt bezweifelt werden.
Wer wirklich einen Ansatz gefunden hat, dem mitunter so unverständlichen Tun des Menschen einen Sinn abzugewinnen, verrät das Programmheft. Dort kommt Michel de Montaigne mit seinen Reflexionen über den Tod zu Wort. Sein maßgebliches Credo war: „Was weiß ich?“. Damit gelang ihm eine Distanz in seinen Reflexionen über das Leben, mit der er den Tod als unausweichlich angenommen hat. Und das ohne einen Anflug von Negativität. Wer den Tod mitdenkt, der feiert ganz anders. Weniger mit Spaß, dafür mit desto mehr Freude. Am Ende ergibt das Rätselhafte hier ja doch Sinn. So gesehen müsste man das Ganze dann noch mal von Neuem anschauen. Lohnen tut es sich auf jeden Fall.
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