Roter Vorhang, schwarzer Schnee
„Seasons in Dance“ im Tanzhaus des Mannheimer Nationaltheaters
In diesem Jahr hat der umtriebige Mannheimer Tanzchef Stephan Thoss gleich zwei Produktionen im Alten Kino Franklin, der Ausweichstätte des Nationaltheaters für die Sparte Schauspiel, platzieren können. Die weitaus professionelleren Bedingungen als im intimen Mannheimer Tanzhaus hat er gut, aber auch so großzügig wie möglich genutzt, das heißt, er hat sie Gastchoreografen zur Verfügung gestellt. Für den zweiteiligen Tanzabend „Where we belong“ haben die Spanierin Alba Castillo und der Israeli Roy Assaf Uraufführungen kreiert. Den Aufruf zur Suche nach der eigenen Verwurzelung im Tanz beantworten die Beiden so unterschiedlich, wie zeitgenössischer Tanz nur sein kann – und bescherten dem Mannheimer Tanzpublikum ein umjubeltes Programm-Highlight.
„La Salita“: Kleine Geschichten
Alba Castillo nannte ihr Stück „La Salita“ in der Würdigung eines typisch spanischen Wohnraums, in dem sich Familienleben mit seinen vielfältigen Facetten abspielt. Da gibt es Begegnungen der Großfamilie am Tisch, aber auch Fernsehen und Zeitunglesen… alles mit einem Hauch von heimeliger Nostalgie in Alltagskostümen der sechziger Jahre. Die Bewegungssprache der Choreografin mit ihren geschmeidigen Übergängen von an-erzählten kleinen Geschichten über Pantomime, Slapstick-Komik und Cheerleader-Frohsinn bis hin zu expressivem großen inneren Drama erinnert ein bisschen an die Arbeiten von Stephan Thoss. Allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: Während Thoss Rhythmus und Energie der Musik in den Bewegungen förmlich durchscheinen lässt, ist der Soundtrack bei Alba Castillo nicht mehr als stimmungsvolle Untermalung. Das macht ihre getanzten Geschichten unverbindlicher und austauschbarer. Kurz vor dem Kippen ins Unverbindliche gelingt ihr aber ein spannendes Duo, in dem das Sich-Fremd-Werden eines Paares mit berührender Intensität Ausdruck findet.
„Point of Principle“: Liebeserklärung an den Tanz
Roy Assaf, für dessen innere Überzeugung die friedliche Koexistenz von Juden und Palästinensern eine Selbstverständlichkeit war, fielen nach dem 7. Oktober viele innere Gewissheiten in sich zusammen. So konnte sich der Senkrechtstarter in der internationalen Choreografenriege nur noch mühsam für die Arbeit motivieren. Für sein Stück „Point of Principle“ fragte er fünf Tänzerinnen und vier Tänzer nach dem Ursprung ihrer persönlichen Liebe zum Tanz. Die vielfältigen Antworten geraten zu einer wunderbaren, witzigen, selbstironischen und mitreißenden Liebeserklärung nicht nur an das Ballett, sondern den Tanz überhaupt.
Das Stück spielt leichtfüßig – auf bunten Socken – mit den Klischees und Stereotypen, aber auch der unvergänglichen Anziehungskraft der bekannten Schritte und Sprünge, Positionen und Posen. Lange hat man die famosen Mitglieder des Mannheimer Tanzensembles nicht mehr klassisch tanzen gesehen (zuletzt in der Ägide von Kevin O’Day). Aber natürlich ist auch in dieser stilistisch vielfältig aufgestellten Kompagnie klassische Ausbildung Trumpf. So bietet das Stück zum Ausklang ein wunderbares Solo für Lorenzo Angelini, der mit seinen Erfahrungen an der Stuttgarter John-Cranko-Schule prunken kann. Während er mit seiner angeblich unerwiderten Liebe zum Ballett mal wirbt, mal hadert, dreht er die Pirouetten oder schraubt sich so akrobatisch vom Boden hoch, dass jeder Hiphop-Tänzer neidisch werden könnte.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments