„Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier, Tanz: Madoka Sugai, Sasha Trusch

Trugbilder und Wahrheiten

Wiederaufnahme von John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ beim Hamburg Ballett

Es ist eine der wichtigsten und großartigsten Kreationen des Hamburger Ballettintendanten in einer kongenialen Ausstattung von Jürgen Rose. Jetzt ist der Klassiker endlich wieder zu sehen – zahlreiche Rollendebuts inklusive.

Hamburg, 20/02/2023

Die besten Ideen entstehen oft am Küchentisch. Eine der schönsten wurde im Oktober 1974 geboren, als der Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose bei John Neumeier zuhause zum Essen war. Rose erzählte von seiner Idee, die Geschichte von „Schwanensee“ mit der des Königs Ludwig II. von Bayern zu verbinden. Ludwig war – als Wagner-Fan, insbesondere des Schwanen-Ritters Lohengrin – ein Schwanen-„Fetischist“: Schwäne aller Art zierten seine Umgebung – auf Stoffen, Mänteln, Kleidern, Tapeten, Gemälden, Skulpturen. Ludwig ließ sogar für sich allein Privatvorstellungen in seinem Hoftheater aufführen, wie Rose zu berichten wusste (was es Neumeier ermöglichte, den „weißen Akt“ aus Schwanensee komplett in seine Version mit einzugliedern). Die Idee, beides miteinander zu verknüpfen, hatte Rose schon in den 1960er Jahren John Cranko für das Stuttgarter Ballett nahegelegt, ohne Erfolg.

Neumeier jedoch war sofort von dieser Idee elektrisiert. Ihm sei in dem Moment „ein Licht aufgegangen“, schreibt er in einem Bericht über die Entwicklung dieses Konzeptes im Programmheft. Tatsächlich gebe es diverse Parallelen zwischen dem Bayernkönig und Prinz Siegfried: Sie sind Prinz und König, ohne es sein zu wollen, sie fühlen sich eher dem Volk verbunden statt dem höfischen Leben, sie werden beide als psychisch gestört betrachtet, sie sollen entgegen ihrem Wunsch heiraten. Und die Liebe, nach der sie sich sehnen, bleibt unerfüllt; sie ertrinken beide im See.

So ist es letztlich dem Gespür John Neumeiers für den Spannungsbogen einer Dramaturgie, seiner Offenheit für ganz neue Ideen und natürlich auch seiner choreografischen Kunst zu verdanken, dass „Illusionen – wie Schwanensee“ entstehen konnte. Zusammen mit Jürgen Rose kreierte er ein Ballett, das seit nunmehr fast 50 Jahren Bestand hat, und immer noch könnte man meinen, es sei gerade erst gestern aus der Taufe gehoben worden. Ein zeitloser Klassiker, wie es in der Ballettwelt nur ganz wenige gibt.

Und man muss unbedingt noch etwas über das Zustandekommen dieses genialen Bühnen- und Kostümbildes sagen, um zu verstehen, warum der Erfolg der Choreografie untrennbar mit diesem Erscheinungsbild verbunden ist (und weshalb es eigentlich ein Sakrileg ist, eine Choreografie ohne die dazugehörige Original-Ausstattung zu verkaufen). Während ihrer Recherchen besuchten Rose und Neumeier 1975 gemeinsam die von Ludwig erbauten Schlösser in Bayern. Ganz zum Schluss, in Herrenchiemsee, entdeckten sie einen unfertigen Trakt mit Wänden aus rohem, unverputztem Backstein, wo allerlei Gerümpel herumstand, Büsten, Skulpturen, abgehängte Gemälde (darunter auch das Krönungsbild Ludwigs II.). Neumeier zufolge, den zuvor große Zweifel plagten, ob das Ballett überhaupt realisiert werden konnte, war es das zweite zündende Erlebnis, das dem ganzen Stück seinen Rahmen gab. Noch am selben Tag entstand das Szenarium für das Ballett. Rose baute ein riesiges Holzgerüst auf die Bühne, das die ganze Vorstellung über stehenbleibt (lediglich im 2. Akt verdeckt durch die Märchenwald-Kulissen, ein Meisterwerk der Bühnenmalerei) – Zeichen der ständigen Suche des Königs nach etwas Neuem, noch nicht Dagewesenem, das ihm seine eigene innere Einsamkeit lindern könnte. Der unfertige Trakt in Herrenchiemsee ist der Rückzugsort für Ludwig, aber auch sein Verließ der Einsamkeit.

Wie einzigartig die ganze Ausstattung ist, sieht man schon beim Betreten des Zuschauerraumes: ein riesiger Schmuckvorhang in Blau, Weiß und Gold, der den Bühnenraum verdeckt, begrüßt das Publikum. 170 Quadratmeter bayernblaue edle Seide, darauf 160 Lilien und Schwäne aus weißem Satin, von Hand ausgeschnitten und auf den Stoff geklebt. Die Vergoldungen für die Bordüren und Ornamente sind nicht aus Farbe, sondern aus Schlagmetall (das etwas dicker ist als echtes Blattgold), auch sie werden per Hand über eine Schablone aufgetragen.

Und dann die Kostüme … Beim großen Richtfest hat Rose tief in die Schublade bayrischer Trachtentradition gegriffen – aber so geschmackvoll, so stilsicher, dass die Szenerie nie überladen wirkt, sondern heiter, locker, volksnah. Mit am beeindruckendsten sind die Schwanen-Tutus, die dieses Jahr für einen sechsstelligen, gesponserten Betrag komplett neu genäht wurden. Nach 168 Vorstellungen seit 1976, in denen sie nie restauriert werden mussten, war es jetzt doch höchste Zeit dafür. Jedes Tutu enthält 14 Meter Tüll in acht Lagen, bestückt mit zehn Metern Straußenfedern, die in Schichten einzeln aufgenäht sind, ebenso an den filigranen Armbändern. Nirgendwo erscheinen die Schwäne so duftig, so federleicht wie in diesen Tutus. Einzigartig auch das Kostüm des Schmetterlings, der im Rahmen des Kostümfests ein Solo hat, ganz zu schweigen von den Roben der Königinmutter – detailgenau den Gewändern zur Zeit Ludwigs II. nachempfunden und jedes für sich ein Meisterwerk der Kostümschneiderei.

„Schwanensee – ein Ballett in drei Illusionen und einer Wahrheit“ wollte Neumeier sein Stück ursprünglich nennen. Er bezieht sich damit auf die Illusionen, denen der Bayernkönig erliegt und die auch im Ballett dramaturgisch durch den Abend tragen. Da ist die Illusion der Verbundenheit mit dem Volk, dem er sich nahe fühlen will, das ihm aber in seiner Funktion als König fremd bleibt und bleiben muss (wunderbar in Szene gesetzt bei dem großen Richtfest für Neuschwanstein im 1. Akt). Da ist die Illusion der Liebe, nach der Ludwig sich sehnt, sie aber nie erlangt – seine Homosexualität kann er zu der damaligen Zeit nicht leben. Seine Liebe zu Prinzessin Natalia ist genauso illusionär wie die zwischen dem Prinzen und der Schwanenkönigin. Und da ist die Illusion des Mannes im Schatten, der Ludwig immer wieder verfolgt, der seine Todessehnsucht spiegelt, aber auch seinen Wahn schürt und mit verantwortet – als böser Zauberer Rotbart und als schwarzer Harlekin im Kostümfest des 3. Aktes, in den Neumeier auch den berühmten Pas de Deux des Schwarzen Schwans mit seinen 32 Fouettés eingebaut hat. Natalia hat sich da als Schwanenkönigin verkleidet, um Ludwig zu gefallen und ihn zu verführen. Das gelingt ihr auch, bis Ludwig doch erkennen muss, dass selbst das Illusion ist und die Wahrheit darin besteht, dass die äußere und innere Welt nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Und so hebt ihn denn der Mann im Schatten als Todesengel zu den gewaltigen Schlussakkorden der Musik aus dem riesigen blauen Seidenvorhang, der vom Schnürboden herabfließt. Ein grandioses Schlussbild – unerreicht in seiner Art (abgesehen davon, dass man sich das Ganze noch etwas besser ausgeleuchtet wünscht).

Die ganze Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit dieses Werkes verlangen den Tänzer*innen extrem viel ab – technisch ebenso wie in Bezug auf die Darstellung, Projektionsfähigkeit und Bühnenpräsenz. Sasha Trusch als König meistert das nachgerade mühelos – er zeichnet diese bipolare Persönlichkeit auf berührende Weise. Wie er einsam und verloren in seinem prachtvollen Krönungsmantel auf dem Thron sitzt, um dann im Pas de Deux mit Natalia manisch geradezu zu explodieren – das sucht auf der Bühne seinesgleichen. Selten hat man diese Rolle technisch so perfekt getanzt gesehen, auch wenn ihm das Neurotische des Königs nicht ganz so grandios gelingt, wie man das von Max Midinet oder Vladimir Derevianko in Erinnerung hat. Madoka Sugai ist eine ebenso einfühlsame wie auf ihre Stellung bedachte Natalia. Vorsichtig nähert sie sich im 1. Akt dem König, erkennbar fremdelt sie mit ihm, aber hey, sie ist seine Verlobte! Was sie im 3. Akt im Grand Pas de Deux mit der ihr eigenen Virtuosität voll ausspielt – schau her, ich bin die Schwanenkönigin! Über jede technische Schwierigkeit ist sie erhaben, steht ihre Balancen souverän, dreht die Fouettés massenhaft double und noch dazu mit raffinierten Armen … Um dann in dem nachfolgenden Pas de Deux mit dem seelisch wieder abgestürzten Ludwig ihre ganze Verzweiflung, ihren Kummer und letztlich auch ihre Hoffnungslosigkeit auszudrücken, dass es ihr einfach nicht gelingen will, diesen Mann für sich zu gewinnen. Alina Cojocaru ist in der 1. Besetzung im weißen Akt Odile – und was soll man über diese großartige Tänzerin noch sagen? Sie ist ebenso berührend wie technisch perfekt. David Rodriguez als Mann im Schatten darf vor allem in der direkten Begegnung mit dem König gern noch mehr Kontur und Präsenz entwickeln. Olivia Betteridge debütierte als Prinzessin Claire mit großem Charme und wunderschöner Linie, Jacopo Belussi als Prinz Alexander war ihr ein etwas farbloser Partner.

Es hat John Neumeier schon immer ausgezeichnet, dass er gerade bei seinen schwierigen Werken dem Nachwuchs immer wieder eine Chance gab. Dieses Mal war es die Gruppentänzerin Charlotte Larzelere, der er in der zweiten Besetzung den schwierigen Part der Natalia anvertraute. Sie verlieh dieser Rolle eine scheue, verletzliche Noblesse, die sie vor allem im letzten Pas de Deux fein ausspielen konnte. Christopher Evans als König konnte den Anforderungen nicht ganz gerecht werden – er zeichnete seinen Part zu gleichförmig und stellenweise auch etwas zu gleichgültig. Felix Paquet als Mann im Schatten hatte noch etwas zu wenig diabolisch-dominante Ausstrahlung, und man denkt sehnsüchtig an Otto Bubeníček zurück, der zusammen mit seinem Zwillingsbruder Jiří das wohl ideale Paar aus König und seinem Alter Ego darstellte. Als Odile glänzte Hamburgs Erste Solistin Xue Lin – mit ebenso großer Verletzlichkeit wie gebieterischer Schwanenköniginnen-Souveränität. Ana Torrequebrada debütierte als Claire und verlieh ihr etwas sehr Kindlich-Spielerisches, an ihrer Seite Alessandro Frola als Prinz Alexander – wie immer technisch und darstellerisch brillant.

Herauszuheben ist hier aber das gesamte Ensemble, das dieses schwierige Stück nur kurze Zeit nach einer Serie von „Dornröschen“-Vorstellungen stilsicher und zuverlässig mit großer Tanzfreude auf die Bühne brachte. Und nicht minder zu feiern ist das Philharmonische Staatsorchester unter Nathan Brock, das die großartige Musik Tschaikowskys zum Blühen brachte, wobei die Konzertmeister Daniel Cho und Konradin Seitzer als Solo-Violinisten brillierten.

Es gab großen Jubel und Standing Ovations für alle Beteiligten. Dass sämtliche Vorstellungen (ebenso wie die vorausgegangenen von „Dornröschen“) ratzfatz ausverkauft waren, spricht für sich.

 

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