„Nostalgia“: Roni Haver & Guy Weizman, Tanz: Ensemble

Halbes Pferd, halber Tisch, halbe Erinnerungen

„Nostalgia“: Roni Haver & Guy Weizman spüren bei tanzmainz Erinnerungen nach

Erinnerungen sind auch hier keine Fakten. Dank ihrer lassen sich aber immer wieder neue Fragen darüber stellen, wie es denn nun wirklich gewesen war. Oder hätte sein können.

Mainz, 03/07/2023

Wenn eine Tanzsparte die Opernbühne des Hauses bespielt, gilt nach unausgesprochener Theater-Spielregel, dass die hier verfügbaren theatralischen Mittel auch voll ausgereizt werden: große Bühne, Orchesterbegleitung, aufwendige Kulisse und möglichst viele Mitwirkende … Das Gegenteil ist der Fall bei der letzten Premiere dieser Spielzeit in Mainz. Die Bühne im Opernhaus ist nicht viel größer als die beherrschende Drehbühne, auf der zu beiden Seiten eine begrenzte Anzahl von Sitzreihen aufgebaut ist – möglichst dicht am Geschehen und in einer fast intimen Atmosphäre. Für den Blick zurück kommt der neue Tanzabend „Nostalgia“ mit zwei Tänzerinnen und fünf Tänzern des famosen Ensembles von tanzmainz aus.

Das israelische Choreografen-Duo Roni Haver & Guy Weizman ist in der Domstadt wohlbekannt – diesen Beiden hatte Honne Dohrmann sein Debut als Mainzer Tanzdirektor anvertraut, und nicht zuletzt mit der tänzerischen Übernahme des Klosters Eberbach („Small Places“) konnten sie sich als Spezialisten für den Zauber des Vergangenen ausweisen. Auch im neuen Stück dreht sich das Rad der Zeit – und mit ihm die Drehbühne – unaufhaltsam rückwärts. Beherrscht wird die Bühne (Ascon de Nijs) von signifikanten Erinnerungsstücken, allen voran ein überlebensgroßes Pferd. Halb gegenständlich, halb durchsichtig verweist es augenfällig auf die Tatsache, dass Erinnerungen keine Aufzeichnung einer Lebens-Überwachungskamera darstellen, sondern eine individuelle Mischung aus Fakten und Fiktion.

Thematischer Aufhänger für die gut einstündige Aufführung ist ein Interview mit Roni Havers damals 72-jährigen Großmutter aus dem Jahr 1982. Aber nur wenige Zitate sind in den raffinierten Soundtrack von Elad Cohen eingewoben. Die Musik wabert sich stimmungsvoll und rhythmisch abgezirkelt durch die zeitgeschichtlichen Anspielungen, am Ende mit Lale Andersens „Lili Marleen“ und sogar Ernst Negers Nachkriegs-Bearbeitung von „Heile, heile Gänschen“. Denn es bleibt eine offene Frage für die Enkelin, mit welcher Fröhlichkeit die Großmutter auf ihr Leben zurückblickt – und mit keinem Wort die Tatsache erwähnt, dass ihre Familie im Holocaust getötet wurde. Ist am Ende heilsames Verdrängen am Werk, wenn sich die Sprecherin an manches einfach nicht erinnern kann?

Das israelische Choreografen-Duo erzählt von Lebensstationen, aber geht zugleich auch der Struktur von Erinnerung nach: Die Gegenstände, die nach und die Drehbühne füllen (ein halber Tisch, ein halber Stuhl, ein halbes Klavier) sind Auslöser für tiefe Emotionen: der Flow der Kindheit, die Machtverhältnisse zwischen Vater und Tochter, aber auch generell zwischen Mann und Frau. Aber es geht nur vordergründig um biografische Fakten. Im Mittelpunkt der choreografischen Recherche und Bewegungs(er)findungen stehen die lebensprägenden Emotionen und die symbolischen Bilder, die sich dafür ins Gedächtnis eingebrannt haben. Immer wieder bleibt eine Szene im Blitzlicht einer imaginären Kamera eingefroren, mit allen Freuden und Schrecken.
Weil es mehr ums Innere als ums Äußere geht, hat Joris Suk für die Kostüme den Fundus nach Fundstücken aus der einschlägigen Zeit durchstöbert und höchst eigenwillig um die Tänzer*innenkörper drapiert. Leibchen Hemdchen, Mieder, Corsagen, Spitzenblusen und Seidenstoffe zeigen sichtbare Gebrauchsspuren und sogar Stockflecken eigenwillig – alles in sanften Sepiafarben wie auf alten Fotografien. Es war einmal so und doch wieder nicht – auch in der Bewegungssprache greifen die Choreografen auf ein großes Spektrum von Ausdruckstanz bis Ballett zurück.

Der Anspruch, keine Geschichte(n) zu erzählen, sondern Assoziationen zu bebildern, kann nur durch die große Stärke dieses Duos für das Gestalten eindringlicher Bilder geleistet werden. Der Appell ans Unterbewusstsein ist die Stärke, aber auch die Schwäche dieses ungewöhnlichen Theaterabends. Manches bleibt vordergründig austauschbar oder – wie die Schlussszene – in rätselhafter Theatralik gefangen. Aber kein Besucher wird diese Aufführung verlassen, ohne zumindest neue Fragen an altbekannte Kindheitserinnerungen zu stellen.

 

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