„May B“ von Maguy Marin

Homeless durch die Jahrzehnte

Ein Höhepunkt der Heidelberger Tanzbiennale: Maguy Marins Klassiker „May B“

Auch nach 40 Jahren und hunderten Aufführungen behält „May B“ seine zeitlose Wirkung. So auch in Heidelberg, wo das Gastspiel in der Hebelhalle zu einem der Höhepunkte der diesjährigen Tanzbiennale geriet.

Heidelberg, 01/02/2023

Bei der Mitarbeit an einem Dokumentarfilm über Londoner Obdachlose nahm der Komponist Gavin Bryars zufällig den Gesang eines Tramps auf, der mit zittriger Zuversicht die Strophe einer alten religiösen Hymne sang: „Jesus blood never failed me yet…“ Erst später erkannte Bryars, was für einen bewegenden Schatz er da geborgen hatte. Er montierte den brüchigen Gesang in eine Endlosschleife mit schlichter Orchesterbegleitung (1971) und landete einen internationalen Erfolg.

Zehn Jahre später nutze Maguy Marin, heute die Grande Dame des französischen Tanztheaters, diesen minimalistischen Loop als Begleitung für den zweiten Teil ihres Stückes „May B“, das den verlorenen Seelen aus den Dramen Samuel Becketts zarte Zuversicht einhaucht – ein scharfer Kontrast zu den beiden Liedern aus Schuberts „Winterreise“, die das Stück einrahmen. Eine einziges Beckett-Zitat erklingt am Ende, aber schon die ersten Szenen lassen die Seelenverwandtschaft zwischen den Figuren des Autors und dem tragikomischen Trüppchen erkennen, das die Choreografin auf Bühnenreise schickt.

Ihre zehn Protagonist*innen sind kunstvoll auf alt hässlich geschminkt, vor allem aber über und über mit weißem Staub bedeckt. Dagegen wirken die Augen wie dunkle Höhlen, in denen alles Gesehene haltlos verschwindet. Ein bisschen ratlos, ein bisschen ziellos - aber doch getrieben von einer unterschwelligen Hoffnung - schieben sie sich im unaufhaltsamen Schlurfgang über den bald staubbedeckten Tanzteppich, unbeeindruckt von Trillerpfeifen oder schmissiger Marschmusik. Nichts Menschliches ist ihnen fremd, im Gegenteil: Sie zeigen zarte Gefühle und derbe Lust, Streit und Friedfertigkeit, Parteinahme und Ausgrenzung, Egoismus und uneigennützigen Zusammenhalt.

Die choreografische Sensibilität von Maguy Marin, die diesem Stück ihren internationalen Aufstieg verdankt, beweisen die vielen unerwarteten Bruchstellen in der Choreografie. Blicke und kleinste Gesten reichen, um ein beständiges Wechselbad der Gefühle spürbar zu machen. Die geisterhaften Gestalten wandeln sich im zweiten Teil in reale Clochards, Obdachlose auf der Suche nach einem Zuhause im Nirgendwo, die wenigen Besitztümer in Koffer oder Beutel dabei. Ein Geburtstagskuchen lässt sie zu Kindern werden, die um das größte Stück feilschen oder sich gleich einen Taschenvorrat anlegen – teilen ist schwer, aber am Ende doch möglich.

Überhaupt hat Maguy Marin ihren Figuren eine große Würde gelassen, ein Menschsein, das auch nach mehr als 40 Jahren und Hunderten von Aufführungen (die „May B“ zum erfolgreichsten Tanztheaterstück überhaupt werden ließen) seine zeitlose Wirkung behält. So auch in Heidelberg, wo das Gastspiel in der Hebelhalle zu einem der Höhepunkte der diesjährigen Tanzbiennale geriet.

Mehr als 10 Jahre später hat ein anderer Choreograf von Weltruhm Gavin Bryars Komposition genutzt. William Forsythe unterlegte damit seine in Zusammenarbeit mit fünf seiner unvergesslichen Tänzer*innen entstandene Choreografie „Quintett“ (1993): eine Hymne an das Leben, gewidmet seiner sterbenskranken Ehefrau. Auch dieses Stück ist längst zum Klassiker der Tanzgeschichte avanciert.
 

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