„where we are (at)“ von Constantin Hochkeppel, Tanz: Ensemble

Dem Chaos standhalten

„where we are (at)“ von Constantin Hochkeppel Stadttheater Gießen

Kritik am Klimawandel warnt vor dem, was übrig bleiben wird: nicht viel.

Gießen, 15/01/2023

Das Stadttheater Gießen hat mit Constantin Hochkeppel einen Vertreter des Physical Theatre als Leiter der Tanzsparte erhalten. Der Kölner, der sich selbst als Performer und Regisseur bezeichnet, hat ein komplett neues Team zusammengestellt, von dem zuvor niemand miteinander gearbeitet hatte. Hut ab, diese Gruppenleistung muss man erst mal hinbekommen. Dramaturgin Caroline Rohmer ist am längsten dabei, seit Februar 2022, sie kommt von den Theaterwissenschaften und bringt bereits einige Theatererfahrung mit. Für Choreograf und Probenleiter Niv Melamed war seine Zeit am Theater Kassel unter Tanzdirektor Johannes Wieland prägend.

Die Idee das erste Tanzstück als Verortung des neuen Teams zu wählen lag nahe. „where we are (at)“ meint nicht nur das geografische „Wo sind wir?“, wobei im Stück konkreter gefragt wird „What is this place?“, sondern ist auch der Versuch einer Verortung in unserer vermeintlich aus den Fugen geratenden Welt. Und es ist der Versuch, dabei nicht unterzugehen, sondern dem Chaos standzuhalten. So jedenfalls die Ankündigung im Pressetext zur Premiere, die an einem Freitag, dem 13. stattfand.

Die Bühne des 115 Jahre alten Stadttheaters Gießen geht stärker in die Tiefe als bei Nachkriegstheatergebäuden, in denen breite Bühnen dominieren. Daher hat Bühnenbildner Nicolas Rauch die Bühne durch einen massiv wirkenden Einbau verkürzt und verengt. Zwar fällt die vordere Wand sehr schnell, doch der nach hinten sich verschmälernde Bühnenraum bleibt eng. Aufgelockert wird die klaustrophobische Atmosphäre durch das Herunterfallen einzelner kachelähnlicher Elemente, wodurch Fenster und Türen entstehen. Die Drehbühne öffnet den Raum noch weiter, lässt die Rückseiten mitsamt einer Bühnenarbeiterin sichtbar werden. Doch der anfangs aufmunternde Kunstgriff wird überreizt, auch die stilllebenartigen Bilderfolgen nutzen sich ab.

Die sieben Performer*innen treten am Anfang nicht aus den seitlichen Bühnenzugängen hervor, einer klettert von hinten über die Stuhlreihen, andere kriechen aus den seitlichen Zuschauertüren herein. Sie tragen lockere Alltagskleidung in staubgrauen Farben, die sich der Umgebung anpassen. Gestaltungswille zeigt sich in den diversen Schnallenverschlüssen und Gürteln aus Leder (Sophie Lichtenberg). Der atmosphärische Sound (HANNS) wechselt zwischen waberndem Dröhnen und hart treibenden Rhythmen, imitiert auch mal Alltagsgeräusche wie das Klappern einer Schreibmaschinentastatur.

Denn eine wichtige Rolle spielen die Texte, die von den Tänzer*innen im Laufe des Arbeitsprozesses selbst geschrieben, von der Dramaturgin lektoriert und dem Stückablauf zugeordnet wurden. Sie haben die Texte auch eingesprochen, was leider nicht immer zur Verständlichkeit beiträgt. Auf den Bildschirmen seitlich und oberhalb der Bühne sind die Texte auf Deutsch und Englisch lesbar. Worum es geht? Um das Trockenfallen der Wälder, um das Ausbleiben der Vögel, kurz: um Klimawandel. Passend zum Kampf um Lützerath an diesem Wochenende, könnte man meinen. Oder als Stück der Bewegung Extinction Rebellion, von der auch der erste live gesprochene Text beim Klettern über die Stühle (Jeff Pham) stammt. Das war beim Pressegespräch zu erfahren, die Zuschauenden mussten ohne das auskommen, im Programmflyer steht nichts davon.

Das angekündigte Chaos erreicht die Kleingruppe beim gemeinsamen Essen, das zunächst in Slow Motion rund um eine barockisierte Tafel arrangiert ist. Gier führt zum Streit, Langeweile zu gemeinsamen Spielen („What if …“), und alles mündet in Aggression und Gewalt. Irgendwann tauchen Tatortreiniger im weißen Ganzkörperschutzanzug auf und räumen die Hinterlassenschaften des Gelages weg. Die Akteur*innen kriechen vereinzelt nach vorne, sind desorientiert und ängstlich.

Nun gibt es erst- und einmalig eine Viertelstunde des gemeinsamen Tanzens, mit kleineren Soli, Paar- und Dreierkonstellationen. Einzelne scheinen krank zu werden, brauchen Hilfe und Zuspruch. Der letzte Lichtwechsel erhellt den Zuschauerraum. Und wieder die Frage „What is this place?“. Sie rätseln gemeinsam, was diese vielen Stühle in einem Raum ohne Fenster wohl bedeutet haben könnten. Und irgendwann wird klar: Sie sind die Übriggebliebenen; wir in den Stuhlreihen sind nur noch Skelette. Es endet mit dem rührenden Versuch des Heilens der Welt. Sie tragen Kostbares in ihren zum Gefäß geformten Händen und schreiten langsam an die Ränder des Zuschauerraumes, nehmen Aufstellung an den Türen wie zum Segnen des Raumes. Getröstet kann man das Theater verlassen. Ob diese Form der Performance das Gießener Tanzpublikum dauerhaft erreicht, wird sich erst noch weisen. Das Premierenpublikum applaudierte begeistert.

 

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