„in decent times” von Constantin Hochkeppel

Alle reden, keiner hört zu

„in decent times” am Stadttheater Gießen

Gutes Benehmen? Von wegen. Sogar das Grundgesetz steht bei Constantin Hochkeppel Kopf.

Gießen, 25/02/2024

In Zeiten, in denen manche Menschen sich das Recht nehmen auszurasten, andere zu beschimpfen und zu bedrängen oder schlimmeres, muss offenbar wieder über Anstand und gutes Benehmen gesprochen werden. Constantin Hochkeppel, Leiter der Sparte Tanz/Physical Theatre am Stadttheater Gießen hatte sich des Themas bereits 2019 angenommen. Die Koproduktion zwischen dem Maschinenhaus Essen und dem FULL SPIN Physical Theatre wurde 2020 mit dem KunstSalon Theaterpreis aufgezeichnet. Am Stadttheater Gießen hat er das Stück wieder aufgegriffen und mit vier Tänzern weiterentwickelt. Einer von ihnen, Micha Baum, war bereits in der ersten Version dabei. Er verkörpert die Heftigkeit der körperlichen Aktionen am überzeugendsten.

Regeln des menschlichen Miteinanders?

Der englische Titel „in decent times“ soll ein Wortspiel mit dem Wort Anstand sein. Sind die vermeintlich anständigen Zeiten früherer Generationen gemeint? Wie und wo lernen wir die Regeln des menschlichen Miteinanders? Darüber hat das Team nachgedacht und die Ideen szenisch umgesetzt. Im Zentrum stehen ein Tisch und vier Stühle, Essgeschirr gehört dazu und kleine Betonblöcke ringsum.

Es beginnt harmlos und zugleich bedrohlich: Alles ist umgekippt und liegt verstreut auf dem Boden. Vorsichtig wird alles aufgeräumt, die einander zugeworfenen Blicke sind ängstlich und lauernd. Ein Familienvater kommentiert mit strengem Blick Fehlverhalten: das sich zu schnell Hinsetzen, mit dem Essen beginnen vor den anderen und ähnliches. Dann säbeln alle ungerührt an ihrem Stück Betonschnitzel herum, stecken sich was auch immer in den Mund, das sie beim Sprechen lautstark ausspucken. 

Grapschen nach der Bedienung

Sprichwörter zu Verhaltensregeln machen die fröhliche Runde („Wer zuletzt kommt ...“, „Der frühe Vogel ...“), diese arten schnell in frauenfeindliche Sprüche aus. („Das darf man wohl noch sagen ...“) Grapschen nach der Bedienung lässt schnell den Eindruck von Bierzelt-Atmosphäre aufkommen. Folgerichtig gibt es die Imitation eines Volkstanzes (Der Rheinländer), der natürlich in Rempeleien endet.

Die kulturell gehobene Ebene des Miteinanders wird wie ein Stück auf der Theaterbühne im Schnelldurchlauf dargestellt; die Opernmusik von Saint-Saens gibt den bedeutungsschweren Hintergrund. Dennoch wird es wieder laut, das Gebrüll toxischer Männlichkeit ist teils schwer zu ertragen. Alle reden, keiner hört zu. Das Grundgesetz wird kopfunter am Tisch hängend zitiert und verballhornt. Eine wahrlich anstrengende Szene für die drei Performer.

Der Dreck der Anderen

Die Frage nach den Frauen geht fast unter, stattdessen zieht die vierte Person mit Schürze und Teppichroller schweigend ihre Kreise und macht den Dreck der Anderen weg. Ein dezenter Hinweis, der hoffentlich auch wahrgenommen wird. Immerhin verdanken wir Elisabeth Selbert, Juristin aus Kassel, eine von vier „Müttern des Grundgesetzes“, den Satz zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Grundgesetz. Am Ende steht dann ein Gewaltausbruch. Wie kam es dazu?

Das Stück stellt viele Fragen, hinterlässt gemischt Gefühle. Voller Respekt gilt den vier Performern Micha Baum, Gustavo de Oliveira Leite, Borys Jaźnicki, Jeff Pham und der Regie, die für punktgenaues Timing sorgt. Dafür konnte sich Hochkeppel wieder auf die bewährte Zusammenarbeit mit Johann Brigitte Schima, Bühnen- und Kostümbild, und dem Sounddesigner Marco Mlynek verlassen. Das Premierenpublikum spendete langen Applaus.

 

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