„Eine große Ehre“
Tarek Assam zum Sprecher der Bundesdeutschen Ballett- und Tanztheaterdirektoren Konferenz gewählt
Das neue Tanzstück „Anaconda“ am Stadttheater Gießen stammt von der in Tel Aviv geborenen Reut Shemesh, die seit 15 Jahren in Köln lebt und arbeitet. Sie studierte Tanz in Jerusalem (Israel) und Arnheim (Niederlande), danach an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Mit ihrer direkten und rauen Tanzsprache ist sie erfolgreich, wird als Gastchoreografin und zu Festivals eingeladen. Die Zeitschrift „tanz“ benannte sie als „Hoffnungsträgerin 2019“. Nun also in Gießen und mit einem aktuellen Thema.
Ihre Grundaussage: „Ich bin Israelin, und als ich am 8. Oktober 2023 aufgewacht bin und kurz durch Social Media gescrollt habe, hat mich der Hass von allen Seiten überwältigt. Ich war noch in Trauer und mich schockierte, wie schnell die Stimmung kippte. In diesem Schock habe ich gedacht, wie schwer es für Menschen ist Schmerz auszuhalten und es in nicht sofort in Rachefantasien umzuwandeln, mit denen sich Menschen online gruppierten. Mich interessiert, wie sich Wut und Aggression in unsere Körper einschreibt und performt wird.“
Die sozialen Medien stehen also im Zentrum des Stücks, genauer das, was sie bei unbegrenztem Konsum mit Menschen machen. Für Shemesh sind diese Medien ein Dschungel, der sich zu Beginn in den bunten T-Shirt-Aufdrucken spiegelt (Kostüme: Lukas Noll). Die jungen Menschen stürzen sich voller Energie, Kraft und Dynamik hinein in die Verlockungen dieses Dschungels. Und merken nicht, wie sie davon geblendet und manipuliert werden.
Auf abstrakter Ebene ist bekannt, dass hinter sozialen Plattformen Algorithmen stecken, die Likes von Negativnachrichten ins Unendliche vervielfältigen und zu vermeintlicher Wahrheit verdichten. Das, was als schöne neue Welt begann, wird zum Schlachtfeld von Falschnachrichten, Beschimpfungen und endet in Verschwörungstheorien. Das ist mit der Anaconda aus dem Titel als Metapher gemeint, auch bekannt als Schlange Kaa, die im Dschungelbuch alle betört.
Bis zur nächsten Nachricht
Die schlichte Bühne ist in Pink gehalten (Ronni Shendar), hat ein Fenster und eine Tür, die manchmal andersfarbig beleuchtet sind. Dazu kommen zurückhaltende Videos, die öfter zum Lachen reizen. Der Sound (Simon Bauer) ist von sich wiederholenden Gitarrenparts und wabernden Soundteppichen geprägt. Spannend wird es bei den gesprochenen Anteilen aus den Lautsprechern. Zitate aus den sozialen Medien werden wie Liedtexte aneinandergefügt, die von den Akteuren mimisch oder tänzerisch vorgetragen werden. Was manchmal verblüffend gut passt, manchmal eher die Brechung thematisiert (Frau zu Männerstimme und umgekehrt). Dabei haben die sehr unterschiedlichen Tänzer*innen fulminante Solos, etwa Maja Mirek und Jeff Pham.
Neben den sieben Mitgliedern des Tanzensembles ist die Sopranistin Julia Araújo auf der Bühne, deren schwarzes Outfit zu blonder Perücke einem Computerspiel entsprungen scheint. Anfangs treibt sie als Urheberin mit gezielten E-Gitarren-Akkorden das Geschehen voran, dann zieht sie sich zurück und beobachtet. Ein gesanglich unglaublicher Part ist von ihren lang gezogenen Tönen getragen, zu dem die Tanzenden beginnen zu summen, mehrstimmig zu singen und kompliziert wechselnde Rhythmen zu klopfen. Da entsteht ein großes Gemeinschaftsgefühl. Die Tanzbewegungen zitieren viele bekannte Moves, aus dem Hip-Hop, Robot Dance, Pantomime, Modern Dance, nicht zuletzt Leistungssport im Laufen und Seilspringen.
Erst als die Erschöpfung bei allen zu groß wird, schreitet die Sängerin ein, indem sie ein sehnsuchtsvolles Lied von der Natur auf Portugiesisch singt (Heitor Villa-Lobos). Die zuvor vorherrschenden schnellen und stampfenden Rhythmen kommen endlich zu Ruhe, die Tanzenden ruhen sich auf dem Boden liegend aus. Vermutlich aber nur bis zur nächsten Nachricht auf dem Smartphone, die wieder alle hochtreibt. Das mehrheitlich junge Publikum applaudierte begeistert.
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