„Ritus“ (UA) von Stefano Giannetti

„Ritus“ (UA) von Stefano Giannetti: Opernchor des Anhaltischen Theaters, Carlotta Rocchi, Kerstin Dathe

Spurensuche im Sakralen

Stefano Giannettis „Ritus“ als Uraufführung am Anhaltischen Theater in Dessau

Stefano Giannetti bleibt nach seinem „Sacre“ der Durchforschung des Sakralen treu und nimmt sich die „Petite messe solennelle“ von Rossini vor. Chor inklusive, und der darf nicht nur singen.

Dessau, 16/04/2023

Es ist großer Bahnhof für den Tanz in Dessau. Tanzchef Stefano Giannetti braucht nicht nur die zehn Tänzer*innen seiner Company, sondern holt gleich auch noch den Opernchor samt Solisten, ein Piano (Alexander Koryakin) und ein Harmonium (Arang Park) und auch Kerstin Darth, Leiterin der Dessauer Puppensparte, auf die Bühne. Im Hintergrund zeugt eine umgestürzte Kuppelkathedrale (Bühne: Guido Petzold) in erhabener Vergänglichkeit von besseren Zeiten der Kirche. Vorn entspannt sich, auf der flächenmäßig größten Bühne in Deutschland, die Uraufführung des Gesamtkunstwerks „Ritus“ nach der „Petite messe solennelle“ von Gioacchino Rossini – von Sebastian Kennerknecht aus dem Souffleurkasten dirigiert.

Puppenspielerin Darth, im Programmheft als „Engelsgestalt“ ausgewiesen, hat viel zu tun, um die Tänzer*innen und Sänger*innen in ihren weißen flirrenden Kostümen von Judith Fischer irgendwie in Übereinstimmung zu bringen. Hier eine Hand angelegt, da ein Arm korrigiert, verwandelt sie puppengleich alle in sich gegenseitig spiegelnde Schatten. Dieser Übersetzungskniff ist ein wesentlicher Punkt, der diesen Abend durchzieht und zugleich die Frage zwischen göttlicher Schöpfer*in und dem Menschen stellt. Tanz und Gesang wachsen in sich ähnelnden Bewegungsmustern zusammen, fließen ineinander. Der Engel führt als mysteriöser Conferencier zugleich die Figuren ein und aus.

Denn auch wenn Sängerschaft und Tanzende hier eine selten gesehene Einheit eingehen, so bleiben natürlich auch Elemente reines Tanzes bestehen in großen Gruppenarrangements oder kleinen Soli oder eher Pas de deux mit singenden Solist*innen, die auch hier so manchen Schritt wagen dürfen oder müssen. Meist barfuß aber stellenweise den Begriff der halben Spitze neu interpretierend, wenn nur ein Fuß im Ballettschuh steckt, um bereits in der nächsten Nummer wieder zu verschwinden, tanzen sie modern in leichten fließenden Gewändern. Mal spielerisch neckend, mal kraftvoll inklusive zahlreicher Bodenfiguren, wenn sie sich mit Körperwellen über den Boden stoßen. Oder Wellen durch die aufgereihten Tänzer*innen gleiten und sie versetzt zu Bewegungsmustern ansetzen.

Das ist nicht immer hundert Prozent genau, aber hat doch immer eine positive Energie. Dabei sucht Gianetti neben der Miniatur auch das große Bild mit Chor und Tanz, wenn etwa Carlotta Rocchi mit dem Chor auf beiden Seiten alle Energie rauslassen darf und dabei spielerisch ironisch zwischen den Sängerkolleg*innen tanzt und flirtet. Aber auch die kleine Form hat Potenzial, wie gegen Ende das Solo von Leonor Campillo, das im Wechselspiel mit Kerstin Darth fast schon wie ein Kommentar zu „Sacre“ wirkt, das Gianetti im Oktober ebenfalls in Dessau choreografiert hat. Angesichts dieses neuen Abends im großen Haus, sicher kein dramaturgischer Zufall. Am Ende wird hier sogar das Publikum in die Festgemeinschaft aufgenommen, wenn das letzte „Dona Nobis Pacem“ von den Seiten des Parketts über die Köpfe der Sitzenden geworfen wird.

Ein übervoller und doch stilistisch sehr zurückgenommener Abend mit stellenweise Revuecharakter, der die sakrale Musik ohne Verluste in weltliches Theatererleben überführt. Bertolt Brecht hätte hier vielleicht vom Materialwert der Kirchenmusik in einer säkularisierten Gesellschaft gesprochen. So ist der Abend auch eine Spurensuche und ein Vorschlag, was von diesen Formen übrig bleibt. Und das ist offenbar so einiges.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern