„EVER|RÊVE“ von Ben J. Riepe und Bára Gísladóttir

Elitäre Zukunft?

„EVER|RÊVE“ von Ben J. Riepe und Bára Gísladóttir im tanzhaus nrw

Wo und wie gelingt es der Kunst, an die Realität anzudocken? Tag zwei des Festivals tanz nrw 2023

Düsseldorf, 11/05/2023

Von Hannes Bohne

 

Es ist der zweite Tag des tanz nrw-Festivals. Nach der Eröffnung mit Runtrough III (Cocoon Dance) im Ringlokschuppen Mülheim gestern, fahre ich zur Premiere von „Ever rêve“ von Ben J. Riepe und Bára Gísladóttir im tanzhaus nrw. Auf meinem Weg dorthin beschäftigen mich die Fragen aus dem Programmheft: „Von welchen Sicherheiten müssen wir uns verabschieden, Versionen einer neuen Zukunft zu erträumen? Kann der gemeinsam erfahrene Schwebezustand einer veränderten Sinneswahrnehmung ein Bewusstsein erzeugen, das eine andere Form von Begegnung und Gemeinschaft ermöglicht?“

Um halb sieben erreiche ich den Kölner Hauptbahnhof: zu Fuß über die Hohe Straße — eine der großen Einkaufsstraßen, die auf den Dom zulaufen. Ich sehe Straßenmusiker*innen in der Fußgängerzone, gerührte Paare, leicht mitschwingende Körper, andächtig lauschende Personen. Ein Pianist spielt „Comptine d'un autre été, l'après-midi“ von Yann Thiersen, die fabelhafte Welt der Amélie in der Einkaufsstraße.

Auf dem Bahnhofsplatz, direkt vor dem Kölner Dom singt Peter Reichmann auf einer Demonstration:

„Ein Sturm kennt keine Grenzen, durchschüttelt jedes Land.
Lässt sich nicht eingrenzen auf ein Vaterland.
Wir überwinden Grenzen, kämpfen Hand in Hand.
So wird die ganze Welt zu unser‘m Heimatland.“

(Der Wind kennt keine Grenzen, nümmes)

Im Vorbeigehen höre ich den Aufruf an Wahlberechtigte der Präsidentschaftswahl in der Türkei am 14. Mai 2023, einen anderen Kandidaten als Recep Tayyip Erdoğan zu wählen, die Wahl sei systementscheidend.

Um 18.39 Uhr fährt der RE1, mit dem ich nach Düsseldorf zum tanzhaus nrw fahre, am Kölner Hauptbahnhof ab. Heute ist Derby, der 1. FC Köln spielt gegen Bayer Leverkusen, und der Zug ist voll. Dicht gedrängt, halten sich die Körper von ganz alleine, niemand kann sich bewegen. Pro Waggon sind zusätzlich zehn bis zwanzig Bundespolizist*innen im Zug. Es riecht nach Kölsch, es ist laut, die Gespräche und Geräusche verschwimmen zu einem sphärischen Klang. Doch die Stimmung ist gut. Kurz vor Leverkusen erwachen einige Fußballfans aus ihrer Apathie und singen „LEVERKUSEN, HURENSÖHNE“ und schlagen rhythmisch auf die Plastikverkleidung des Zugs ein.

Eine Begegnung an der Tür des RE1, an der ich stehe, beeindruckt mich: Ein Mann steigt aus, lässt die anderen aus dem Zug und beruhigt nervöse Mitfahrende. Es entsteht eine Atmosphäre von Rücksichtnahme, der sich weitere Personen anschließen.

Ist das schon ein gemeinsam erfahrener Schwebezustand? Die Passant*innen, die in der Fußgängerzone stehen bleiben, obwohl es eigentlich Transitorte sind und dem Pianisten zuhören oder Peter Reichmann, der revolutionäre Kampflieder singt? Eine veränderte Sinneswahrnehmung, durch intensive Gerüche von Schweiß und Alkohol, Parfüm, Snacks und verbrauchter Luft?

Im tanzhaus nrw verdunkelt sich der Große Saal, er ist ausverkauft. Auf der schwarzen Bühne sind zwei Personen zu sehen, die sich berühren und wiegen, eine schwarze Latexhose ist das einzige reflektierende Element. Nach und nach betritt das Ensemble die Bühne, insgesamt neun Personen. Die Körper wiegen sich weiter, schwingen ineinander, begleitet von körperlich spürbarem, lautem Wummern aus den Lautsprechern. Einzelne Tänzer*innen fallen auf den Boden, zittern stark am gesamten Körper. Sie werden von anderen Tänzer*innen fürsorglich berührt, beruhigt und gliedern sich wieder in das Schwingen und Wiegen ein.

Der Traum beginnt mit einer Projektion, die alle drei Wände der Guckkastenbühne ausfüllt. Mit defokussiertem Blick zeigt sich eine Art Tunnel, ein Übertritt in eine andere Welt, der von sphärischen Klängen begleitet wird.

Eine weiße Tür erscheint aus dem Dunkel, vorn links auf der Bühne. Nebel tritt heraus, sie öffnet und schließt sich. Plötzlich fällt die Tür nach hinten um. Kreischen auf der Bühne. Währenddessen fragt eine tanzende Person, ob das Publikum Fotos von ihr machen könne, mit Blitz. „Can you take pictures? With flash?“ Zögerlich werden Smartphones gezückt und Fotos gemacht. Mit Blitz. Auch später wird das Publikum gebeten, Fotos von zwei Tänzer*innen zu machen. Dann ist es schon routinierter, die Fotos werden schneller gemacht.

„OH MY GOD, IT’S A SNAKE, IT’S TRYING TO CHOKE ME!“ schreit ein*e Tänzer*in, mit einer Stoffschlange um den Hals. Im Publikum wird gelacht. „IT’S DANGEROUS! CAN SOMEBODY CALL THE POLICE?“ Auf der Bühne kämpft die Person mit dem Erstickungstod, ruft immer wieder das Publikum auf, die Polizei zu rufen. Ist die Begegnung der Zukunft, die Vision von Gemeinschaft eine, die Polizei zwingend einschließt? Gerade vor aktuellen Vorfällen rassistischer Polizeigewalt, der Black Lives Matter-Bewegung, die „I can’t breathe“ als zentralen Slogan verwendet, aber auch rassistischer Polizeigewalt in Deutschland kann ich darüber nicht lachen. Ist es eine sarkastische Anspielung oder nicht ausreichend bedacht?

Außerdem sehen wir eine Geburt. Auf einem weißen Tisch, die Mutter, mit Bart, wird mit Blumen geschmückt. Ein Körper zuckt, bis er sich nicht mehr rührt und mit einem weißen Tuch bedeckt wird. Dann wird der steife Körper an das hintere Ende der Bühne getragen und aufgestellt, bis er sich wieder zuckend aus dem Tuch bewegt. Ein Hundeskelett wird an die Brust gelegt und gesäugt. Die bemerkenswert filigrane und kunstvolle musikalische Komposition wechselt von sphärischen Klängen graduell zu analoger Musik: Singen, Summen, bis zu einem Blechbläser-Ensemble, in dem alle Instrumente — darunter ein Alphorn — zur gleichen Zeit spielen. Die Komposition lässt damit die Körper und Stimmen der Performenden zu Instrumenten werden und gliedert sie ein in ein weites Verständnis von Musik.

Auf einer großen Plane werden mit schwarzen Lappen zwei (fast) nackte Körper gewaschen. Und bunt angezogen — gegen Ende des Traums tritt Farbe hinzu: blauer Hut, rosa Tüllrock, Flip-Flops. Die jetzt bunt gekleideten Tänzer*innen des Ensembles beginnen, sich durch das Publikum zu bewegen. Sie fragen nach Fotos, Selfies. Verteilen Kaugummis. Sprechen über Laktose-Intoleranz. Immer wieder hallt „FUCK OFF!“ durch den Großen Saal. Dann wachen wir auf, eine Projektion beendet den Traum. Wir sind wieder zurück. Vögel zwitschern.

Ich habe heute viele Träume und Versionen einer Zukunft gesehen: träumen in der Einkaufsstraße, politische Visionen einer Welt ohne nationale Grenzen, den Traum von einem Auswärtssieg des 1. FC Köln. Die Version einer Zukunft der selbstverständlichen Rücksichtnahme an der Zugtür als performativer Aufruf an die Mitreisenden. In „Ever Rêve“ setzen sich diese Träume fort: Berührung als Antwort auf Verloren-Sein und Zittern. Der Wunsch nach Gemeinschaft und die anschließende Verbindung und Nähe mit dem Publikum. Von den Fußballfans aber auch im Großen Saal des tanzhaus nrw höre ich vulgäre Ausdrücke. Eine Annäherung der Welten? Die Performance wirkt ästhetisch und mit sehr talentierten Tänzer*innen und Musiker*innen besetzt. Der Traum ist schön in seiner Irrationalität. Und doch werden in der Performance „Versionen einer neuen Zukunft“ erkundet, die sehr exklusiv sind. Das ist nicht falsch, es ist wichtig, an neuen Versionen der Zukunft zu forschen. Doch ich denke, man sollte sich dabei klar machen, dass wir hier von einer spezifischen Zukunft zu sprechen, die ein gebildetes und reflektiertes Publikum anspricht. Scharf formuliert träumt die — hier im Großen Saal gebildete — Gemeinschaft (zu der auch ich gehöre) von ihrer eigenen Zukunft. Dabei werden die Zukünfte und Träume derer, die nicht ins tanzhaus nrw kommen, außer Acht gelassen.

Der Rückweg im RE1 ist ruhig, der FC Köln hat gewonnen, die meisten Reisenden sind müde.

 

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit Tanzwissenschaft-Studierenden und dem Festival tanz nrw. Mit dem gemeinsamen Projekt möchten die Institutionen – zumindest temporär – eine Lücke schließen in der überregionalen Kulturberichterstattung über die freie Tanzszene in NRW.

 

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