John Neumeier im Ballettsaal bei Proben zum „Weihnachtsoratorium“

Der Jahrhundert-Choreograf

50 Jahre John Neumeier in Hamburg

Am 3. September beginnt seine allerletzte Spielzeit mit einem Open-Air-Event: Tanz auf dem Rathausmarkt. Über 170 Kreationen für den Tanz hat Neumeier geschaffen und das Hamburg Ballett zu einer der führenden Kompanien in der Welt gemacht. Ein Lebenswerk seit den 1960er Jahren, das seinesgleichen sucht.

Hamburg, 29/08/2023

Im September beginnt für John Neumeier eine besondere Spielzeit: Es wird seine letzte als Intendant des Hamburg Ballett sein, nach 50 Jahren in der Hansestadt. Damit ist er definitiv der dienstälteste und sicher auch der meistgeehrte Choreograf und Ballettdirektor der Welt. „Epilog“ nannte er diese Saison – denn eigentlich wäre er am liebsten mit der Jubiläums-Spielzeit 2023/24 gegangen. Aber Demis Volpi, der nach langer Suche zu seinem Nachfolger erkoren wurde, konnte und wollte sich erst 2024 nach Ablauf seines derzeitigen Vertrages beim Ballett am Rhein in Düsseldorf freimachen. Und so willigte Neumeier ein, noch einmal ein Jahr dranzuhängen. Was nicht das Schlechteste ist – so wird der Übergang ein sanfterer.

Mit über 170 Kreationen für den Tanz, viele davon abendfüllend, hat Neumeier Hamburg zu einem Mekka des Tanzes gemacht – zumindest des neoklassischen. Der Senat und die Bürgerschaft verliehen ihm für seine Verdienste als wohl herausragendster Kulturbotschafter der Stadt im Jahr 2007 die nur selten erteilte Würde eines Ehrenbürgers. Damit steht Neumeier in einer Reihe mit u.a. Ida Ehre (1985, Schauspielerin, Regisseurin und legendäre Chefin der Hamburger Kammerspiele), Gerd Bucerius (1986, Publizist und Herausgeber der ZEIT), Rudolf Augstein (1993, Gründer und Herausgeber des SPIEGEL), Marion Gräfin Dönhoff (1999, Publizistin und Herausgeberin der ZEIT), Siegfried Lenz (2001, Schriftsteller), Uwe Seeler (2003, Fußballer), Loki Schmidt (2009, Pädagogin und Naturschützerin), Michael Otto (2013, Unternehmer und Mäzen) und Udo Lindenberg (2022, Rockmusiker).

John Neumeier, 1939 in Milwaukee in eine Kapitänsfamilie hineingeboren, erhielt in seiner Heimatstadt sowie in Chicago seinen ersten Tanzunterricht. Schon als 10-Jähriger hatte er Bücher über den Tänzer und Choreografen Vaslaw Nijinsky verschlungen und die seltenen Gastspiele der Ballets de Monte Carlo oder des American Ballet Theatre mit großen Augen bestaunt. An der Marquette-University in Milwaukee studierte er englische Literatur und Theaterwissenschaft und schloss das Studium mit dem Bachelor of Arts ab.

Um seine Aus­bildung zu vervollkommnen, ging er Anfang der 1960er Jahre nach London an die Royal Ballet School, wo ihn Marcia Haydée und Ray Barra entdeckten und 1963 ans Stuttgarter Ballett holten. Dort tanzte er in vielen Stücken von John Cranko, anfangs im Corps, später als Solist. Die Matineen der Noverre-Gesellschaft boten ihm die Gelegenheit, schon früh sein Talent als Choreograf zu entwickeln. Im Juli 1966 kreierte er „Aria da Capo“ zu Musik von Francis Poulenc. Im Dezember 1966 folgte „Haiku“ (Musik: Claude Debussy), ein Jahr später „Von Unschuld und Erfahrung“ (Musik: Arthur Honegger) und „Der Prinzessin einziges Abenteuer“ (Musik: Mauro Giuliani). Im Juli 1968 gastierte das Stuttgarter Ballett mit Neumeiers „Separate Journeys“ (Musik: Samuel Barber) bei den Schwetzinger Festspielen.

Im Dezember desselben Jahres be­gann Neumeier auch für andere Kompanien zu choreografieren: „Stages and Reflections“ (Musik: Benjamin Britten) für den Auftritt des Harkness Ballet aus den USA im Opernhaus Monte Carlo und im Juni 1969 „Frontier“ (Musik: Sir Arthur Bliss) für das Scottish National Ballet. „In gewisser Hinsicht war John Cranko mein handwerklicher Meister“, sagt Neumeier in einem Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung im Februar 2021 anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Stuttgarter Balletts zu seinen ersten Gehversuchen als Choreograf. „Es ist beeindruckend, wie er in ‚Der Widerspenstigen Zähmung‘ mit einfachen, plakativen Mitteln Shakespeares Komödie verständlich macht. Aber es waren überkommene Erzählperspektiven, gegen die ich rebellierte. Ich wollte auf eine andere Art mit dem Handlungsballett umgehen, wollte mit neuen Strukturen experimentieren.“

Und das tat er umgehend, als Ulrich Erfurth den damals erst 29-Jährigen nach sechs Jahren in Stuttgart als Ballettdirektor nach Frankfurt engagierte. Dort stellte Neumeier sich erstmals der Herausforderung, eigene abendfüllende Stücke für sei­ne eigene Kompanie zu kreieren – und schuf Werke, die bis heute zu den bedeutendsten Klas­sikern des modernen Balletts zählen: im Februar 1971 „Romeo und Julia“ (Musik: Sergej Prokofjew), im Oktober 1971 „Der Nussknacker“ in einer ersten Fassung (Musik: Peter Tschaikowsky), im Januar 1972 „Der Kuss der Fee“ (Musik: Igor Strawinsky/Peter Tschaikows­ky) und „Daphnis und Chloe“ (Musik: Maurice Ravel), im Juni des­selben Jahres „Don Juan“ (Musik: Willibald Gluck/Victoria) und „Le Sacre“ (Musik: Igor Strawinsky), um nur die wichtigsten zu nennen. 1973 holte August Everding Neumeier nach Hamburg, wo er seither eine Kompanie von Weltruf aufgebaut hat, die zur Crème de la Crème der Ensembles weltweit gehört.

Ein schwieriger Start

Hamburg wurde zu John Neumeiers zweiter Heimat. Das Publikum begegnete ihm ebenso wie der gesamten Sparte Ballett an der Oper anfangs jedoch noch hanseatisch-distanziert. Dies auch, weil er kurzerhand 17 Tänzer*innen des bestehenden Ensembles gekündigt und durch eigene, aus Frankfurt mitgebrachte ersetzt hatte. Generell ist es ja nicht unüblich, dass ein neuer Direktor eigene Leute mitbringt, in dieser Größenordnung war es jedoch nachgerade ein Affront. Beharrlich, zäh und mit einer leisen, aber sehr wirksamen Über­zeu­gungsarbeit gelang es Neumeier jedoch, die Zu­rückhaltung und das Misstrauen des Publikums aufzubrechen. Ein Schlüssel dafür war die von ihm neu ins Leben gerufene „Ballett-Werkstatt“, eine vierteljähr­liche Matinée am Sonntagvormittag auf der Bühne der Staatsoper, wo er mit unnachahmlich charmantem amerikani­schem Akzent dem Publikum sowohl zentrale Themen des Tanzes und der Tanzgeschichte wie auch Stücke nahebringt, an denen er gerade arbeitet. Bei der ersten dieser Werkstätten im September 1973 hatte er mitten in der Präsentation einen Blackout – er wusste nicht mehr, was er sagen wollte und gestand dies offen und ehrlich ein. Damit war das Eis gebrochen – und die Hamburger begannen, ihn in ihr Herz zu schließen. Dort hat er bis heute einen Stammplatz.

1975 rief Neumeier die „Hamburger Ballett-Tage“ ins Leben – Abschluss und Höhepunkt jeder Spiel­zeit, in denen die Kompanie zwei Wochen lang täglich ein anderes Stück aus dem Repertoire zeigt, unterbrochen von zwei Gastspiel-Abenden und gekrönt von der „Nijinsky-Gala“, die jeweils einem bestimmten Thema gewidmet ist. Auf diese Weise hat sich Neumeier mit den Jahren ein ebenso ballettkundiges wie -begeistertes, aber durchaus nicht unkritisches Publikum erzogen. 1978 gründete er die Ballettschule des Hamburger Balletts, deren Arbeit bis heute vor allem durch zwei Vereine unterstützt wird, die aus der Mitte des Hamburger Bürgertums entstanden sind: 1980 gründeten sich die „Ballettfreunde Hamburg e.V.“, ein Jahr später die „Freunde des Ballettzentrums Hamburg e.V.“. Beide unterstützen junge Tänzer*innen und ermöglichen über die eingesammelten Spenden Stipendien, die Teilnahme an internationalen Wettbewerben sowie Deutsch-Sprachkurse und die physiotherapeutischen Behandlungen der Schüler*innen im Ballettzentrum.

1989 war Neumeiers Position in der kultu­rellen Welt der Hansestadt so gefestigt, dass die Kulturbehörde und einige Mäzene es ihm ermöglichten, mit der Kompanie und der Schule aus den beengten Proben­räumen der Oper in einen lichtdurchfluteten Backsteinbau des Architekten Kurt Schumacher um­zuziehen, ein ehemaliges Schulgebäude in der Caspar-Voght-Straße im Stadtteil Hamm. Dort wurde der Ballettschule ein Internat angegliedert und so ein großzügiges Ballettzentrum geschaf­fen, das Nachwuchs und Profis unter einem Dach vereint. Die Hamburger Kaufleute, gerne auch „Pfeffersäcke“ genannt und eher als knausrig bekannt, hatten begriffen (nicht zuletzt durch den Einfluss ihrer Gattinnen, die das Ballett mit seinem smarten Direktor für sich entdeckten), dass es ihnen durchaus zur Ehre gereichte, die schönen Künste mit ihrem Geld zu unterstützen (was sie bis heute mit großzügig dimensionierten Beträgen tun). So stammte die letzte Million D-Mark für das Ballettzentrum, dessen Neugründung sonst auf der Kippe gestanden hätte, von einem Hamburger Kaufmann, der jedoch – hanseatische Zurückhaltung! – damals nicht genannt werden wollte (heute weiß man, um wen es sich handelte). Seine Spende war einzig an die Bedingung geknüpft, dass der Name des Hauses mit dem seines Chefs verbunden werde: „Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier“.

Hürden und Hindernisse

Diese Erfolgsserie verstand sich allerdings nicht von selbst – vor allem in den ersten zwanzig Jahren hatte Neumeier immer wieder mit großen Problemen zu kämpfen, sowohl was die Anerkennung der Sparte Tanz betraf, als auch die finanziellen Mittel und Spielstätten, die die Stadt ihm für seine Arbeit zur Verfügung stellte. Da hieß es z.B., das ehemalige Operettenhaus auf St. Pauli, in das die Vorstellungen des Hamburg Ballett vorübergehend wegen Renovierungsarbeiten in der Staatsoper ausquartiert wurden, werde künftig ein Haus nur für den Tanz – ein Wunsch, den Neumeier von Beginn an gehegt hatte. Doch dann wurde diese Zusage kurzerhand wieder kassiert – Musicals erschienen der Stadt lukrativer als Ballett.

Um seinen Etat und die Zuschüsse für seine Kompanie musste Neumeier regelmäßig hartnäckig kämpfen – auch das keine leichte Aufgabe. Immer wieder wurden ihm seitens der Politik Sparmaßnahmen verordnet, und im Lauf der Jahre musste er das Ensemble kontinuierlich verkleinern, bis schließlich eine kritische Grenze von heute 56 Tänzer*innen erreicht war (plus sechs Aspirant*innen). Noch stärker darf die Kompanie nicht schrumpfen, sonst lassen sich die großen Klassiker nicht mehr auf die Bühne bringen.

Nicht nur einmal stand Neumeier kurz davor, der Hansestadt den Rücken zu kehren und seine Arbeit anderswo fortzusetzen. Gleich zweimal lehnte er die Übernahme der Direktion der Pariser Oper ab – ein Angebot, das man eigentlich kaum ausschlagen kann. Dass er sich entschied, in Hamburg zu bleiben, war seiner Treue zu dem Ort geschuldet, an dem er sein Ensemble nach seinen Vorstellungen aufbauen und formen, sie künstlerisch und finanziell unabhängig machen und mit ihr auf internationale Gastspieltourneen gehen konnte, flankiert von der Schule und seit 2011 auch von einem achtköpfigen Ensemble für den Nachwuchs – dem Bundesjugendballett, das seiner Leitung untersteht. Durch sein über 50-jähriges Verbleiben als Ballettdirektor und Chefchoreograf ermöglichte er der Hamburger Kompanie eine Kontinuität, wie es sie nur ganz selten gibt. Dabei konnte er immer wieder auf die verschiedenen Hamburger Kultursenator*innen zählen – die meisten von ihnen wussten genau, was sie an Neumeier hatten. Leicht haben sie’s ihm dann aber doch nicht gemacht.

Viele Steine in den Weg gelegt haben ihm auch die verschiedenen Regularien an der Bühne mit ihren definierten Arbeitszeiten, nach denen er sich immer wieder zu richten hatte. Einem Künstler wie ihm, dem es immer um das perfekte Ergebnis geht, der an jedem Detail der Inszenierung und Beleuchtung stundenlang feilen kann, war das schwer beizubringen – seine langen Proben waren seinerzeit ebenso berüchtigt wie seine Hartnäckigkeit. Das Resultat lohnte dann aber eben doch jeden Aufwand.

Ein Fanatiker ist er auch, was seine Sammelleidenschaft betrifft. Kaum ein Gegenstand, der mit dem Tanz zu tun hat, ist vor ihm sicher. Über die Jahrzehnte hinweg baute Neumeier so eine Sammlung mit über 50.000 Exponaten auf (Skulpturen, Fotos, Briefe, Objekte, Gemälde, Zeichnungen und Gebrauchsgegenstände aus der Welt des Tanzes, darunter einzigartige Kostbarkeiten aus dem Leben Vaslaw Nijinskys) sowie eine riesige Bibliothek, die weltweit ihresgleichen sucht. Erst nach jahrzehntelangen Verhandlungen spendierte ihm die Stadt im Mai 2022 endlich eine Jugendstilvilla in bester Lage für ein Ballettinstitut. Dort werden künftig über die „Stiftung John Neumeier“ auch alle seine Choreografien, die schon lange durch Choreologinnen in der Benesch-Notation festgehalten werden, zuhause sein.

1996 erhielt Neumeier den Status des Ballettintendanten und ist seither nicht mehr dem Opernintendanten unterstellt – ein weiterer Beweis für die Anerkennung, die er sich in Hamburg und weit über die Grenzen von Stadt und Land hinaus erkämpft hat. Die hohen Auslastungszahlen der Ballettvorstellungen von fast immer über 90 Prozent, neben denen die Oper kaum bestehen kann, und die weltweiten Erfolge, die er mit seinem Ensemble alljährlich einfuhr, hatten ihn in seiner Position nahezu unangreifbar gemacht. Kein Intendantenwechsel am Opernhaus konnte seine Stellung mehr gefährden – solange seine Fünf-Jahres-Verträge immer wieder verlängert wurden, saß er fest im Sattel.
 

Der Meister der „großen Form“

Neumeier ist einer der ganz wenigen zeitgenössischen Choreografen, die sich noch darauf verstehen, ein abendfüllendes Handlungsballett auf die Bühne zu bringen und dies dramaturgisch so aufzubereiten, dass es das Publikum in Bann schlägt. Er beherrscht die „große Form“, die Kunst, ein großes Ensemble so zu arrangieren, dass es sich schlüssig in die Erzählung einreiht und eine eigene Dynamik entwickelt – und das auch noch mit einer ausgebufften choreografischen Raffinesse. Das macht ihm so schnell kein anderer mehr nach heutzutage.

Mit vielen seiner Stücke hat Neumeier, selbst tief im christlichen Glauben verwurzelt, Ballettge­schichte geschrieben, vor allem mit seinen Choreografien zu sakraler Musik. Am Anfang stand 1980 gleich ein vierstündiges Mammutprojekt für 41 Tänzer*innen: Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“. Dieses heilige Werk, das in Deutschland alljährlich kurz vor oder in der Karwoche in Kirchen und Konzertsälen gespielt wird, für den Tanz zu adaptieren, war ihm ein Herzensanliegen: „Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion hat mich tief betroffen“, schreibt er in einem Beitrag für das Programmheft zur Neueinstudierung 2003. „Seine musikalische Gestaltung des Passionsgeschehens und der darin enthaltenen allgemeinen und persönlichen Glaubensinhalte hat in mir das Bedürfnis geweckt, eine choreografische Formulierung dafür zu finden. Ich bin Christ und Tänzer. Mein ganzes Leben, Denken und Fühlen ist Tanz, die Choreografie meine eigentliche Sprache. Sollte ich nicht versuchen, meine eigenen religiösen Überzeugungen und Erlebnisse in ihr auszudrücken und künstlerisch zu gestalten? (…) Die Arbeit an der Matthäus-Passion war wie die Suche nach einer verschollenen Sprache: nach einer Sprache für religiöse Inhalte und nach einer choreografischen Form für Bachs musikalische Formulierung. Ich wollte nicht eine dramatische Darstellung oder Illustration des Ostergeschehens, sondern eine vielschichtige, Bachs Komposition entsprechende tänzerische Wiedergabe des biblischen Geschehens in seiner religiösen und menschlichen Bedeutung. (…) Für mich ist das Ballett zur Matthäus-Passion keine Schau zur Musik, kein peinliches Entlanghangeln oder Deuteln an der Musik, sondern es ist für mich: getanzte, in Körperbewegung ausgedrückte, gelebte Musik.“

Und doch schien dieses Unterfangen mehr als gewagt. Es war, nur sieben Jahre nach Beginn seiner Ballettdirektion in Hamburg, nachgerade eine Provokation. Neumeier war sich dessen durchaus bewusst und zeigte deshalb erst einmal in der Hamburger St. Michaelis-Kirche, dem „Michel“, wo er den damaligen Kirchenmusikdirektor Günter Jena an seiner Seite wusste, erst einmal „Skizzen zur Matthäus-Passion“ zu Live-Musik, noch vor der eigentlichen Premiere im Opernhaus. Diese Aufführung sowie eine Ballett-Werkstatt fungierten als Prüfstein. Sie sollten zeigen, ob der Weg gangbar ist. Er war es. Nach diesen beiden Vorstellungen sei ihm klar gewesen, heißt es in dem Programmheft-Beitrag weiter, dass er „den einmal begonnenen Weg weitergehen“ musste: „Im Grunde legten sie mir die Verpflichtung auf, ihn zu Ende zu gehen. Ich konnte die Matthäus-Passion nicht mehr nicht machen.“

Diese unbedingte Treue zu einer tief empfundenen inneren Verpflichtung zeichnet Neumeier aus. Er tut, was er tun muss. Der Erfolg gibt ihm darin oft Recht: Seit der skandalumwitterten Uraufführung 1981 hat die „Matthäus-Passion“ geradezu einen Siegeszug rund um die Welt angetreten und wurde bei vielen Gastspielreisen gezeigt, eine der wohl bewegendsten Aufführungen fand in Hiroshima statt. Viele Jahre lang tanzte Neumeier die Rolle des Jesus selbst. 2005 wurde die letzte dieser Vorstellungen mit ihm (damals bereits 66-jährig!) im Festspielhaus in Baden-Baden aufgezeichnet und ist als DVD im Handel. Nie hat Neumeier einer anderen Kompanie erlaubt, dieses ihm so wichtige Werk zu übernehmen. Es bleibt dem Hamburg Ballett vorbehalten.

Es folgte Bachs „Magnificat“ (1987 für das Ballett der Pariser Oper kreiert und beim Festival d’Avignon gezeigt, Hamburg-Premiere 1989), Mozarts „Re­quiem“ (1991 in der Felsenreitschule in Salzburg uraufgeführt), Händels „Messias“ (1999) sowie 2007 die ersten drei Teile von Bachs „Weihnachtsoratorium“, 2013 kam der zweite Teil (Abschnitte IV-VI) hinzu. Mit „Dona nobis pacem“ zu Bachs h-Moll-Messe rundete Neumeier 2022 seine christlich motivierten Arbeiten ab.  

Neuland betrat Neumeier auch, als er sich schon kurz nach Beginn seiner Zeit als Hamburger Ballettdirektor 1975 eine ganze Sinfonie für den Tanz vornahm, und dann auch noch ausgerechnet die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler, was ihm heftige Anfeindungen seitens der Musikwelt eintrug. Eine Sinfonie brauche das Ballett nicht, sie stehe für sich allein und dürfe durch den Tanz nicht entweiht werden, so hieß es damals vielerorts. Heute kann man sich das kaum noch vorstellen – und im Lauf der Jahre hat Neumeier fast alle Mahler-Sinfonien mit Erfolg für den Tanz erschlossen. Die Dritte Sinfonie blieb dennoch etwas Singuläres und ist bis heute das Signatur-Stück des Hamburg Ballett.

Das Leben Gustav Mahlers und ebenso die Kompositionen von dessen damaliger Ehefrau Alma inspirierten Neumeier 2011 zu „Purgatorio“, einem seither leider nicht mehr gezeigten sehr besonderen Werk über ein einsames Künstlerleben. Und mit „Turangalîla“ schrieb Neumeier 2016 Musik- und Tanzgeschichte, weil der Komponist – Olivier Messiaen – verfügt hatte, dieses komplexe sinfonische Werk dürfe – nach einigen Erfahrungen mit choreografierten Versionen – nie mehr als Ballett gezeigt werden. Über Kent Nagano, ein Schüler Messiaens mit guten Beziehungen zu dessen Erben, der seinerzeit neu als Generalmusikdirektor an die Hamburgische Staatsoper kam, erreichte Neumeier jedoch, dass er eine Ausnahmegenehmigung bekam.

Handlungsballette und Literaturadaptationen

Legendär wurden Neumeiers Handlungsballette zu literarischen Vorlagen: Hugo von Hofmannthals „Josephs Legende“ (zuerst 1977 in Wien gezeigt, mit Judith Jamison als Potiphars Weib), Alexandre Dumas‘ „Die Kameliendame“ (1978, für Marcia Haydée und das Stuttgarter Ballett kreiert, 1981 erstmals in Hamburg aufgeführt und 1987 prachtvoll fürs Kino verfilmt), „Artus-Sage“ (1982), Tennessee Willams‘ „Endstation Sehnsucht“ (1983 wiederum für das Stuttgarter Ballett erarbeitet und 1987 erstmals in Hamburg gezeigt). Es kamen hinzu: Henrik Ibsens „Peer Gynt“ (1989, 2015 überarbeitet), „A Cinderella Story“ (1991), Homers „Odyssee“ (1995, in der Spielzeit 2023/24 wird das Stück jetzt erstmals wieder aufgenommen), „Sylvia“ (1997) nach Torquato Tassos Schäferspiel ‚Aminta“, Anton Tschechows „Die Möwe“ (2002), Thomas Manns „Tod in Venedig“ (2003), Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ (2005), „Parzifal – Episoden und Echo“ (2006) nach Wolfram von Eschenbach, „Orpheus“ (2009), Ferenc Molnárs „Liliom“ (2011) mit der wunderbaren Musik von Michel Legrand, „Tatjana“ (2014) nach dem großen Epos „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin, und 2019 noch einmal ein Stück von Tennessee Williams: „Die Glasmenagerie“.

Natürlich durften auch die großen Klassiker nicht fehlen, die Neumeier von allem Pomp entstaubte und ganz neu interpretierte, ohne ihr traditionelles Herzstück zu zerstören. Schon 1971 hatte Neumeier seine erste Version von „Der Nussknacker“ produziert, damals noch in Frankfurt, später überarbeitete er das Werk für das Bayerische Staatsballett in München mit einem neuen Bühnen- und Kostümbild von Jürgen Rose und brachte es 1974 in Hamburg auf die Bühne. „Dornröschen“ begeisterte mit einem Prinzen in Jeans (!) in der Hansestadt 1978 und in einer überarbeiteten Version erneut 2021. Für „Illusionen – wie Schwanensee“ folgte Neumeier 1976 einem genialen Vorschlag von Jürgen Rose, indem er das tragische Schicksal des Prinzen mit dem Leben des unglücklichen Bayern-Königs Ludwigs II. verflocht – es gehört zu den Preziosen des Hamburger Balletts und ist regelmäßig ausverkauft. Bei „Giselle“ bestach 1983 (und ebenso in der Überarbeitung im Jahr 2000) vor allem Neumeiers Idee, die Mutter des jungen Mädchens als blinde Frau darzustellen, was dem Stück eine ganz eigene Dimension verlieh, unterstrichen durch das sich in seiner Reduktion von allen traditionellen Ausstattungen deutlich unterscheidende Bühnenbild von Yannis Kokkos.

Auch Shakespeares große Theaterwerke hatte sich Neumeier verschiedentlich vorgenommen: nach „Romeo und Julia“ (1971 in Frankfurt/Main, 1974 erstmals in Hamburg und 1981 erneut überarbeitet) war es 1977 „Ein Sommernachtstraum“. Darin kombinierte Neumeier dreierlei Musikstile: die Komposition Felix Mendelssohn-Bartholdys für die höfischen Szenen, Musik von György Ligeti für die Feenwelt und traditionelle Drehorgel für die Handwerker-Szenen. Damit sowie über das Bühnen- und Kostümbild von Jürgen Rose erhielt das Ballett einen ganz eigenen, neuen und bis heute begeisternden Anstrich. 1985 folgten „Wie es Euch gefällt“ zu Musik von Mozart und „Othello“ zu Musik von Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Nana Vasconcelos u.a., aufgeführt in der seinerzeit noch sehr rohen und rauhen Kampnagelfabrik, was diesem Stück ein besonderes Flair verlieh. In „VIVALDI oder Was ihr wollt“ (1996) arbeitete Neumeier zur Musik des Barockkomponisten vor allem die verschiedenen menschlichen Charakterzüge, die Shakespeare angelegt hatte, heraus.

Für „Hamlet“ brauchte er mehrere Anläufe: Schon 1976 hatte Neumeier das Thema in einer Kurzfassung als „Hamlet – Connotations“ für Mihail Baryshnikov, Gelsey Kirkland, Erik Bruhn und Marcia Haydée beim American Ballet Theatre choreografiert. Später benannte er das Stück in „Der Fall Hamlet“ um und erarbeitete für das Stuttgarter Ballett eine Neufassung mit Egon Madsen, Lucia Isenring, Marcia Haydée und Richard Cragun. Zum Repertoire des Hamburg Ballett gehört es seit der Nijinsky-Gala 1977. Im Jahr 1985 griff Neumeier das Thema erneut auf und schuf „Amleth“ für das Königlich Dänische Ballett, 1997 kam „Hamlet“ als Neufassung in Hamburg auf die Bühne und 2021 mit „Hamlet 21“ noch einmal eine grundlegend überarbeitete Version.

Was Neumeiers Literatur-Adaptationen generell auszeichnet, ist seine extreme Akribie in der Recherche. Er geht den Geschichten, Epen und Erzählungen immer komplett auf den Grund, er seziert die verschiedenen Handlungsstränge, deutet sie dann aber ggf. völlig neu und macht sie im Tanz in seiner eigenen Interpretation transparent.

Immer wieder setzt er sich auch mit dem Zeitgeschehen auseinander – 2001 entstand mit der „Winterreise“ zum Liederzyklus von Franz Schubert in der Interpretation von Hans Zender ein eher düsteres, sperriges Werk über die Heimatlosigkeit und Entwurzelung, über den Verlust des Vertrauten und dem Exil in sich selbst. Es ist ein Werk, das in seiner Geschlossenheit und grüblerischen Wehmut (wiederum zu einem Bühnenbild von Yannis Kokkos) tief berührt und drei Monate nach den schrecklichen Ereignissen von 9/11 in New York in die Stimmung der Zeit passte.

„Ghost Light“ choreografierte Neumeier spontan 2020, mitten in der Corona-Krise, als Reaktion auf die Lockdowns, die die Tänzer ins Mark trafen. Hartnäckig und wild entschlossen gegen alle bürokratischen Widerstände ankämpfend setzte er sich dafür ein, dass seine Tänzer*innen im Ballettzentrum unter ausgefeilten Sicherheitsvorkehrungen wieder tanzen konnten. Selbst Pas de Deux waren möglich – Neumeier schloss einfach diejenigen Paare zusammen, die ohnehin zusammenlebten.

Eines seiner wichtigsten Werke ist und bleibt jedoch „Nijinsky“ zu Musik vor allem von Nikolai Rimsky-Korsakow und Dmitri Schostakowitsch. Das zweistündige Stück erarbeitete er mit seiner Kompanie im Jahr 2000 innerhalb von nur vier Wochen. Es ist eine fulminante Liebes­er­klärung an diesen Tänzer und Choreografen, der dem modernen Tanz Anfang des vorigen Jahr­hun­derts den Weg bahnte und zu dem Neu­meier eine ganz besondere seelisch-geistige Be­ziehung hat.

Der Hamburger Spirit

Was macht nun das Besondere aus, das John Neumeiers riesiges Oeuvre auszeichnet? Vielleicht dies: dass er es wie nur wenige andere versteht, im Tanz Geschichten zu erzählen und menschliche Gefühle in Bewegung umzusetzen. „Ich denke, dass Ballett in gewissem Sinne immer eine Geschichte erzählt“, sagte er mir 1999 in einem Interview. „Wenn man eine Kunst hat, wo der Mensch das Instrument ist, muss er quasi eine Geschichte erzählen, ohne daran zu denken. Eine Geschichte weniger mit Anfang, Mitte und Ende, sondern im Sinne einer Aktion, einer Situation.“ Das, was mit oder zwischen Menschen geschieht, ist für ihn zentral: „Ich mag gerne menschliche Beziehungen darstellen im Tanz, inspiriert von Literatur oder einem sinfonischen Werk, eine Geschichte, die man in Worten gar nicht erzählen kann, sondern eigentlich nur spürt. Das ist der Sinn von Tanz: etwas auszudrücken, was Worte nicht können.“

Meist beginnt ein Stück bei ihm mit einem intuitiven „ersten Ja“ zur Musik oder zu einem bestimmten Thema. Im Folgenden geht es dann jedoch nicht darum, etwas originalgetreu wiederzugeben, sondern im Dialog mit den Tänzer*innen etwas Neues zu erschaffen, den Kern herauszuarbeiten, die Essenz. Nichts ist dabei geplant, alles entsteht im Prozess, im Jetzt, durch die Gefühle und Assoziationen, die die Musik oder das Geschehen in ihm selbst weckt – weshalb er bei der Kreation immer selbst vortanzt, noch ohne so genau zu wissen, was er da eigentlich tut. „Ich verstehe die Werke oft erst viel später“, sagt er. „Das heißt nicht, dass ich dafür zu dumm wäre. Ich lasse dem Ganzen einfach seinen Lauf. Ich plane etwas, dann arbeite ich instinktiv und intuitiv, und erst viel später versuche ich zu verstehen, was ich eigentlich gemacht habe.“

Weshalb Neumeiers Stücke auch nie fertig sind. Solange er lebt, erfahren sie bei jeder Aufführung (und wenn er in Hamburg ist, schaut er sich wirklich jede an, in Reihe 1, Platz 1 rechts im Parkett – wie einst Rolf Liebermann) immer wieder kleine Veränderungen und Korrekturen. Sein Credo: „Ich glaube an das Ballett als eine lebendige Kunst. Einige meiner Ballette, vor allem die neuen, machen sehr viele Metamorphosen durch. Das ist der große Vorteil, wenn man nicht nur Choreograf ist, sondern gleichzeitig Ballettdirektor mit festem Ensemble – nur dann ist so etwas möglich.“

Es ist einer der Gründe, warum Neumeier mit seinem Ensemble so fest verschmolzen ist und dieses mit ihm. Das Hamburg Ballett ist ohne ihn kaum vorstellbar, und er selbst kann sich sein Leben ohne seine Kompanie vermutlich ebenfalls nicht denken (weshalb es sehr spannend ist, was aus dem Ensemble wird und wie es sich entwickelt, wenn mit Beginn der Spielzeit 2024/25 Demis Volpi die Ballettintendanz übernehmen wird). Das, was Neumeier macht, ist nur möglich, weil ihm die Tänzer*innen bedingungslos folgen. Weil sie nach Hamburg kommen, um mit ihm zu arbeiten, nicht weil sie die Stadt so toll finden. Und weil Neumeier von ihnen fordert, ganz sie selbst zu sein und sich im Tanz selbst zu entdecken. Nichts zu mimen, nie so zu tun, als ob, sondern immer zu sein, sich voll und ganz der Rolle hinzugeben und sie mit den eigenen Qualitäten und Erfahrungen zu erfüllen. Das ist der besondere Spirit des Hamburg Ballett.

Von Anfang an war diese enge Verbindung zwischen ihm und dem Ensemble die Grundlage für seine Arbeit, weshalb er auch nie verstehen konnte, dass man ihm oft vorwarf, zu wenig andere Choreografen einzuladen: „Jede starke Kompanie hat ein Prinzip, das sie unverwechselbar macht. Das Prinzip des Hamburg Ballett ist die Kreation. Wir gestalten neue Werke durch die Zusammenarbeit zwischen mir und den Tänzer*innen. Es ist eine kreativ-choreografische Kompanie. Niemand kam je auf die Idee, Pina Bausch vorzuwerfen, dass sie keine anderen Choreografen eingeladen hat. Warum das bei mir so oft geschieht, weiß ich auch nicht. Pina Bausch hat eine hervorragende eigene Vision konsequent durchgehalten, das ist doch großartig, das sehe ich sehr positiv. Ihre Form von Tanz basiert auch auf ganz strengen Techniken – und ich finde ebenfalls, dass das sehr wichtig ist. Ich bin ein Mensch, der das Handwerk liebt – im Tanz, aber auch generell.“

Eine exzellente Technik ist für Neumeier immer nur ein Mittel zum Zweck, eine absolut notwendige Voraussetzung, um das Innere, Eigene im Tanz überhaupt freisetzen zu können, sie steht aber nie im Mittelpunkt. Ausdruckslose hohe Beine oder zirkushafte Galanummern interessieren ihn nicht. Er will mit dem Tanz berühren, die Seele ansprechen – sowohl bei seinen Tänzer*innen wie auch beim Publikum. Dieses muss die Schritte nicht verstehen, wichtig ist, dass das Gesehene etwas in in den Zuschauer*innen auslöst, wenn es ins Herz trifft, Gefühle auslöst und damit in Erinnerung bleibt. Die Hamburger*innen lieben ihn gerade deshalb.

In jeder seiner Arbeiten steckt ein Stück seiner selbst, seiner Emotionen, seiner Erfahrungen, seines Wesens: „Ich bin ein Choreograf, der sich öffnet. Mit dem, was ich mache, öffne ich mich, ich bin verletzbar. Das ist ganz unmodern. Als modern gilt heute oft, nicht beteiligt zu sein, Dinge zu machen, die formal interessant sind, aber emotional nicht dazu zu stehen. Ich kann nicht nur formal sein, ich bin immer inhaltlich und emotional. Ich brauche die Wahrhaftigkeit.“ 

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