Ginevra Panzetti und Enrico Ticcon: „Insel“

Ginevra Panzetti und Enrico Ticcon: „Insel“, Julia Plawgo, Aleksandra Petrushevska, Efthimios Moschopoulos & Sissj Bassani (v.l.n.r.)

Archetypen unter Beobachtung

Tanz im August mit Themen aus der Karibik, der Elfenbeinküste und Europa

Zwei Premieren, eine deutsche Erstaufführung. Tanz im August setzt auf Risiko bei der Programmgestaltung und unterschiedliche Zugänge.

Berlin, 12/08/2023

Tanz im August hat sich in seiner 35. Ausgabe unter der neuen Leitung von Ricardo Carmona einiges vorgenommen. So standen nach dem Start im HAU mit der deutschen Erstaufführung von Marco da Silva Ferreiras „C A R C A Ç A“ gleich zwei Premieren und die weitere deutsche Erstaufführung von Tajal Harrells „The Romeo“ auf dem Programm, das tanznetz bereits zur Premiere  in Zürich besprochen hat. Allerdings ist jede Premiere auch immer eine Carte Blanché, da das Festival ja nicht ein fertiges Stück sondern ein lediglich ein Konzept einkauft – den beteiligten Künstler*innen also einen ordentlichen Vertrauensvorschuss gewährt. Den galt es jetzt einzulösen

Spurensuche I: Toi, moi, Tituba

Da wäre zunächst das knapp einstündige Solo „Toi, moi, Tituba“ von und mit Dorothée Munyaneza. Wobei Solo bereits eine unzureichende Vereinfachung ist, denn Khyam Allami, der live die elektronische Musik beisteuert, für Loops und Soundsampling zuständig ist und damit der kongeniale Gegenpart zu körperlichen Performance, macht den Abend zu einem ausgefeilten Duett. Zwischen 21 Neonröhren, die auf der Bühne der Villa Elisabeth verteilt sind, stakst Dorothée Munyaneza, angetan in schwarzem Tüllkleid von Stéphanie Coudert in zuckenden Bewegungen durch Raum. Suchend aber auch ein wenig neben der Spur, während metallische Tropfensounds auf die Zuschauenden herabregnen. Später wandelt sich der Sound in rückwärts gesprochenes Kauderwelsch, die Bewegungen bleiben erratisch, Muyaneza geht selbst ans Mikro, es wird gesprochen und gesungen. Immer wieder klatscht sie laut in die Hände oder auf die Schenkel. Ihre Stimme wird geloopt und verfremdet, die Worte erscheinen wie aus weiter Ferne und auch die Bewegungen, die in ritualisierende Muster verfallen. Die hackenden Bewegungen transformieren zum sanften Flow. Am Ende dann die große Verwandlung nach einem französischen Text, der um Erinnerung und Freiheit geht. Auf eine übertitelnde Übersetzung wurde verzichtet, so dass sich das Inhaltliche nur französischsprachigen Menschen erschließt, was an dieser Stelle mehr als ärgerlich ist, da die Szene ein zentrales inhaltliches Scharnier zwischen Körperarbeit und ihrer Bedeutung darstellt. Im Habib aufgelöst kommt der Abend dann am Ende zur Ruhe. Dabei kann er das hochgesteckte Ziel, ein körperliches Archiv über die als Hexe verfolgte karibische Großmutter anzubieten, nur bedingt einlösen. Die Suche nach dem Archetyp der unangepassten Frau wird bei Munyaneza zur verrätselten Meditation, deren Bezugspunkte doch arg im Dunkeln bleiben. Es bleibt aber immerhin aber das Spiel von Körper und stimmungsvollen Soundtrack, was den Abend dann doch gut an sein sein Publikum bringt.

Spurensuche II: Insel

Im Dunkeln bleibt auch „Insel“ vom italienischen Duo Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi, getanzt von Sissj Bassani, Efthimios Moschopoulos, Aleksandra Petrushevska und Julia Plawgo im Festssaal der Sophiensäle. Hier ist die Dunkelheit freilich Konzept. Die Inszenierung sucht das archetypische Konzept der Insel. Da finden sich Anlehnungen an Shakespeares „Sturm“ oder „Robinson Crusoe“, wenn die vier Tänzer*innen als gestrandeter Mann und gestrandete Frau in weißen Tropenanzügen in Bewegungen, die an Stop-Motion oder Marionetten erinnern, mit ihren tanzenden Schatten in der dunklen Einsamkeit hantieren. Dabei gibt es Text, der unheimlich plärrend auf italienisch aus kleinen vor die Brust geschnallten Boxen ertönt und in kalligrafischen Übertiteln übersetzt wird, die das Lesen genauso schwierig gestalten wie das Zuhören. Zumal diese Texte später in überlagerten Rauschen enden, was dann auch die Übertitel schön übersetzen, die schließlich zur rein grafischen Oberfläche werden. Zusammen zu Rauschen, Regen, Gewittersounds oder elektronischen Klangflächen liefern die vier zunächst ein Spiel mit den Formen der großen Oper in auslandenden, bewusst gestelzten Bewegungen, die das hohe Pathos der Lächerlichkeit Preis geben. Spielen die beiden Schatten diesen Theaterspaß zunächst mit oder dienen mit kleinen Taschenlampen als Lichtgeber, entwickeln sie bald ein Eigenleben, dass sie von ihren weiß gekleideten Figuren emanzipiert. Auch der Sound wandelt sich mit dem Einsatz von polyphonen Obertongesang, wie er im Cantu a Tenore aus Sardinien eine große Rolle spielt. Die Tänzer*innen laufen derweil im Rhythmus einer Luftpumpe herum und versammeln sich schließlich um ein umgedrehtes Lagerfeuer, das aus Sand besteht, das aus einem Trichter rieselt, der die ganze Zeit das einzige Bühnenobjekt war. Panzetti und Ticconi liefern so in einer knappen Stunde ein stimmungsvolles, fein-komisches und technisch versiertes Kreisen um ein Stück europäischer Motivgeschichte auf sehr abstrakter Ebene.

 

Spuren legen: Prophétique (on est déjà né.es)

Wieder weg von Europa führt Nadia Beugré Libr’Arts mit „Prophétique (on est déjà né.es)“. Die Choreografin Nadia Beugré arbeitet dafür mit Künstler*innen aus der LGBTI* in Abidjan. Sie liefert damit nicht nur einen Beitrag, den die AfD hassen dürfte, sondern zugleich einen hochenergetischen und hochpolitischen Abend, der aber (fast) ganz ohne moralisierende Anklagen auskommt, sondern die Menschen in den Mittelpunkt stellt. Schon der Start lässt die sechs Tänzer*innen Beyoncé, Canel, Jhaya Caupenne, Taylor Dear, Acauã El Bandide Shereya, Kevin Kero explodieren. Stampfende Disco-Musik, ein Spiel mit ausgelassener Nachtclubatmosphäre im Stil des Coupé-Décalé mit viel Twerking und körperbetonter Extase setzen den Ton. Die sechs sind konsequente Crossdresser*innen und das heteronormative Körperbild gegen das ansonsten immer gekämpft hier einfach aufgelöst zu Gunsten eines befreienden anything goes. Die sechs tanzen aus ihrem Leben, von Bühnenerfahrungen als Sänger*in, Arbeiten in Schönheitssalons und dem großen Traum reich zu werden. Grelles und überspitztes löst sich rhythmisch ab mit ruhigen Szenen. Nach dem fulminanten Start wird erstmal von allen das Make-Up erneuert, um dann aber in eine körperlich anspruchsvolle Straßenhundenparodie zu wechseln, in der sich Faszination und Bedrohung die Waage halten. Die Bühne von Jean-Christophe Lanquetin ist gespickt mit kleinen Details: Von der Decke hängen glänzende Tücher, dahinter verbergen sich Geld oder Bonbons, die als Requisiten in die Bühnenschlacht geworfen werden. Mal ist es zärtlich, dann wieder grob und explizit, oft mit ostentativ herausgestellten wackelnden Arschbacken. Gezeigt wird eine Gemeinschaft, die zusammen durch dick und dünn geht. Dies allerdings ohne sich im Geschichtenerzählen zu verlieren, sondern in der Mission, Emotionen in Bildern zu transportieren. Am Ende erst hält Jhaya Caupenne, dann in großer Perücke, einen Monolog, der die Bühnenutopie mit der Realität rückkoppelt: „Was soll ich machen, um ohne beschimpft zu werden, durch die Stadt gehen zu können?“ Das Ende der Ansprache ist kämpferisch: „Ihr solltet euch daran gewöhnen. Wir sind hier. Wir bleiben hier.“ Der Abend dürfte schon jetzt zu einer der Höhepunkte der diesjährigen Ausgabe von Tanz im August zählen, vielleicht auch weil er keine alten Archtypen sucht, sondern ganz dreist neue schafft.

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