„Fear“ von Mauro Astolfi, Tanz: Bern Ballett

Emotionscocktail und alkoholfreier Absacker

Uraufführungen von Mauro Astolfi, Etienne Béchard und Rima Pipoyan am Bern Ballett

Ein Möchtegern-Mörder im Küchenschrank, explosive Laborexperimente, schale Elegie – drei tänzerische Erkundigungen von Angst, Wut und Liebe

Bern, 16/10/2023

„Anatomy of Emotions“, so der Titel des Programms, bei dem sich das Ensemble des Ballett Bern zum Auftakt der neuen Spielzeit eindrucksvoll präsentiert, musikalisch begleitet vom Berner Symphonieorchester unter Artem Lonhinov.

Der Italiener Mauro Astolfi, Leiter des Spellbound Contemporary Ballet in Rom und weltweit als Gastchoreograf tätig, ist zum wiederholten Male Gast in Bern. „Fear“ ist eine Entdeckung: Überraschend, skurril und fantasievoll konterkariert Astolfi die bedrückenden Assoziationen, die vermutlich alle mit diesem Gefühl verbinden. Verena Hemmerlein, die bei allen drei Stücken das Bühnenbild gemacht hat (wie Irina Shaposhnikova für alle das Kostümdesign), hat für ihn einen wunderbaren Bühnenraum geschaffen. In der blaugrauen Küche verwickelt Astolfi die zehn Tänzer*innen der Compagnie in einen Miniaturkrimi um einen Auftragsmörder. Dieser, Marioenrico D’Angelo, hat zu Beginn in Stille einen Auftritt als Putzmann mit gelben Handschuhen, der sich gleichermaßen unschuldig wie verdächtig der Reinigung hingibt.

Überfluss an Ideen

Mit dem 1. Satz aus Beethovens Sinfonie Nr. 3 setzt das Orchester ein, am Tisch in der wieder leeren Küche sitzt Momoko Nakamura, aus dem Schrank reckt sich unheilvoll eine behandschuhte Hand, sie stößt einen gellenden Schrei aus, und dann entfaltet sich ein veritables Spektakel. Das etwa 35-minütige, kurzweilige Stück quillt über von Ideen; ein Marcel-Breuer-Stuhl ist Partner und potenzielle Waffe; aus der Spüle tauchen Köpfe auf, der Kühlschrank wird zum Versteck, aus der hinteren Küchenwand dreht eine Dusche in den Raum. Die Skurrilität steigert sich bis zu einer an Hitchcocks „Psycho“ erinnernde Szene, in der sich der Möchtegern-Mörder mit blitzendem Messer auf den Duschvorhang zu bewegt, hinter dem Sophia Shaw unter plätscherndem Wasser steht, und diesen herunterreißt, während alle anderen um den Tisch beim Essen sitzen. Schreie, ein kurzer Kampf, der Angreifer wird überwältigt und seine blutende Wunde mit Weißbrotscheiben gestillt, die anschließend verzehrt werden dürfen. Einiges mag over the top anmuten, ist aber im Gesamtkonzept absolut schlüssig und daher verzeihbar.

Filmischer Charakter des Stücks

„Fear“ ist cineastisch, fordernd und rasant; die Tänzer*innen meistern es bravourös und beweisen dabei auch ihre schauspielerischen Qualitäten. Da darf auch das Schicksalsmotiv aus Beethovens „Eroica“ nicht fehlen, mit dem das Berner Symphonieorchester den filmischen Charakter des Stücks perfekt mitträgt. Großartig eine Gruppenszene mit beiden Tischen, bei der man den Eindruck hat, alle Beteiligten hätten schon mal die Forsythe’sche „One Flat Thing Reproduced“-Schule mit Auszeichnung bestanden, um sich hier mit furchtloser Hingabe in die Choreografie zu werfen.

Auftaktstücke haben in Dreiteilern nicht unbedingt immer den dankbarsten Platz, aber Mauro Astolfi ist es gelungen, dass sein mitreißend humorvoller und dabei nicht verhohnepipelnder Blick auf die irrationale Seite der Angst als Highlight im Gedächtnis bleibt.

Teils Kommandobrücke, teils Fabrik

Nach der ersten Pause präsentiert sich die Szenerie in Etienne Béchards Stück „Anger“ bedrohlich düster mit einer Art schwebendem, fahrbarem und mit einem Schornstein versehenem Podium, das teils an eine Kommandobrücke, teils an eine Fabrik erinnert. Der aus Frankreich stammende Béchard war Tänzer beim Béjart Ballett, ist seit langem als freischaffender Choreograf tätig und hat bereits mehrfach für die Compagnie in Bern Stücke kreiert. Das auch hier wieder gelungene Bühnenbild lässt eine Art Laborszene entstehen, in dem die in schwarzen Anzügen unterschiedlicher Schnitte gekleidete Wissenschaftler*innen beklemmende Experimente an den hell gekleideten Proband*innen durchführen, bei denen Letztere lernen sollen, ihre Wut zu unterdrücken. Auch in „Anger“ stellt das Ensemble unter Beweis, dass es in puncto Technik und Vielseitigkeit viel zu bieten hat. Es gibt bedrückende Machtspiele und entfesselte Explosivität, die in einer schwindelerregenden Ensembleszene um Mari Ishida kulminiert. Auch „Anger“ wird vom Orchester begleitet (Mahler, Gluck, Veracini); zusätzlich werden einige Klangcollagen und Aufnahmen eingespielt. Am Ende des knapp halbstündigen Stücks beeindruckt Indar Carmona Viñas – zu dem Zeitpunkt als einziger noch hell gekleidet – mit einem Solo zu Oasis Song „Don’t look back in Anger“, bis er im Wasser unter dem hochgefahrenen Podium liegt, das sich über ihn senkt und auf dem Marieke Monquil im Abschlussbild ihre Macht demonstrieren darf.

Mit seiner choreografischen Umsetzung hat Etienne Béchard eine unter die Haut gehende choreografische Anatomie der Wut geschaffen, deren kraftvolle Bilder nachwirken.

Handwerklich unausgegoren

Die armenische Choreografin Rima Pipoyan, die an der Staatlichen Choreografischen Hochschule in Yerewan die Abteilung für Modernen Tanz gründete und leitet, ist das erste Mal Gast beim Bern Ballett und schuf für sechs Tänzer*innen das Abschlusswerk dieses langen Abends. Leider bleibt „Love“ hinter der ideenreichen Intensität der beiden vorherigen Stücke zurück und wirkt handwerklich unausgegoren. Dabei ist der Beginn vielversprechend und visuell evokativ. Große Leuchtrahmen schweben an verschiedenen Stellen der Bühne; die Tänzer*innen, die teils alleine, teils zu zweit in ihnen stehen, treten aus ihnen heraus. Aber trotz anfänglichen Aufflackerns von sinnlichen Momenten hier und da, mag sich bei den tänzerischen Begegnungen keine Tiefe einstellen. Der Choreografie wohnt eine Zögerlichkeit inne, die den Gefühlskosmos, den sie darstellen möchte, einengt. Irgendwann schweben die Rahmen nach oben, und zu Gustav Mahlers Adagietto aus seiner 5. Sinfonie verliert sich das Stück in schaler Elegie mit vielen Schreit- und Drehbewegungen. Zum Glück weiß man zu diesem Zeitpunkt, dass den Tänzer*innen choreografisch deutlich viel mehr zuzutrauen und zuzumuten ist.

So ist im Emotionscocktail des Abends der Absacker alkoholfrei, aber das macht nichts, denn der Schwips von den ersten beiden hält noch an. Der Abend bleibt als ein starker in Erinnerung, der vom Publikum im schönen Berner Stadttheater höchst angetan aufgenommen wurde.

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