„Schneeweißchen und Rosenrot“ von Jutta Ebnother. Tanz: Joseph Edy, Vinícius da Silva 

„Schneeweißchen und Rosenrot“ von Jutta Ebnother. Tanz: Joseph Edy, Vinícius da Silva 

Kinder brauchen Märchen

„Schneeweißchen und Rosenrot“ von Jutta Ebnother mit der Deutschen Tanzkompanie

Die Uraufführung des Märchenballetts für so gut wie alle Altersgruppen der Deutschen Tanzkompanie aus Neustrelitz feiert bejubelte Premiere im Schauspielhaus von Neubrandenburg.

Neubrandenburg, 02/11/2022

Fast alle sind Plätze besetzt, die Reihen steigen hoch an, bestens für die vielen kleineren Zuschauenden, mache noch in den Armen der Eltern, andere auf den Schößen, die größeren eigenständig auf ihren Plätzen. Schön, dass es dunkel ist im Theater, so können Kinder in jedem Alter schon mal nach der Hand der Mutter, des Vaters oder älterer Geschwister greifen.

Auf der Bühne von Axel Rothe an der Seite rote und weiße Rosenstöcke. Auf der anderen Seite zunächst eine geheimnisvolle Truhe, aus der es immer wieder golden heraus flimmert. In der linken, hinteren Ecke der Bühne das Häuschen, oder eher die kleine Hütte. Hier wohnen sie, die fleißige Mutter, die beiden Töchter, benannt nach den Rosen: Schneeweißchen die eine, die zaghaftere, Rosenrot die andere, mit mehr Temperament und vor allem Neugier.

Der Tag beginnt, die Arbeit muss gemacht werden. Wenn die von Joseph Edy getanzte Mutter den Besen schwingt, dann kommt schon mal die Assoziation von einer Hexe auf, die gleich auf ihrem Besen abheben wird. Diese Mutter jedoch bleibt auf dem Boden. Aber die geliebten Töchter, Franziska Schüller als Schneeweißchen und Sanaho Kitamoto als Rosenrot, dürfen zumindest in ihren Träumen abheben. Und wenn sie sich wie in geheimer Sprache, die ja Kindern nicht selten eigen ist, verständigen, dann klingt es an, dass Märchen keine Grenzen kennen. Man versteht sie in allen Sprachen, und im Tanz erst recht. Vor allem, wenn zunächst so sanft wie hier zu romantischen Klängen aus Antonin Dvoraks „Tschechischer Suite“ von den Schwestern getanzt wird und sie sich schon bald in das große alte Märchenbuch vertiefen.

Später dann brechen auch ganz andere, folkloristisch grundierte, sehr tänzerische Rhythmen auf, z.B. wenn es gilt, mutig zu sein, Hoffnungen und Wünsche nicht dahin fahren zu lassen. Wenn sich Marc Balló Cateura als erster der Prinzen - als Bär verwandelt - zu dem häuslichen Trio gesellt. Wenn der zweite Prinz, den Vínicius da Silva tanzt, als eigentlich ganz und gar nicht friedlich wirkender Adler einfliegt. Die Rhythmen entstammen der Sammlung Romantischer Volkstänze von Béla Bartók oder, wenn es wieder sanfter wird, aus den letzten Blättern des Dänischen Streichquartetts.

Und so wie es dann im Verlauf des Märchens durch die Stationen von Verwechselungen, Verfolgungen, des Findens und des Verlierens geht - auf den Wegen von der Kindheit in die des jugendlichen Erwachens, wie im Wechsel der Jahreszeiten -, so führen die stimmungsvollen Fotowände dieser Märchenbühne direkt in die fotografische Welt.

Aber noch sind nicht alle Fäden entwirrt, noch können Bär und Adler nicht wieder zu Prinzen werden, erst gilt es nämlich, jenen Schatz aus der wunderlichen Truhe zu finden, den ein ganz schön geschickter, von Joseph Edy getanzter Zwerg - den wir doch eben noch als Mutter sahen – versteckt hat.

Jutta Ebnother versteht es in ihrer erzählenden Choreografie durch die Tanzstile verschiedener Zeiten und Epochen zu führen. Klassische Strenge wird aufgelöst, indem sie bei den beiden Schwestern immer wieder die schwingenden Bewegungen hoffnungsvoller Leichtigkeit auf der halben Spitze nutzt. Die erst verwandelten, dann aber in männlicher Pracht von Zottelfell und scharfem Adlerschnabel befreiten Prinzen können kraftvoll auftrumpfen. Und der eigentlich ja gar nicht so unsympathische Zwerg kann am Ende fröhlich weitertanzen und sich freuen, sicherlich nicht zum letzten Mal davon gekommen zu sein.

Und dann ist ja da noch jene so bescheiden zurückhaltende und alles im Blick haltende, hohe Gestalt: Daisuke Sogawa als Schutzengel, wenn auch ohne Flügel. Er sendet jene lebenswichtigen Strahlen selbstloser Zuneigung aus. Eigentlich tritt er im Märchen nur einmal am Anfang auf, wenn die furchtlosen Schwestern im Wald einschlafen. Dann wacht er über sie. Wenn sie erwachen, ganz nahe am Abgrund einer tiefen Schlucht, dann haben sie diesen Engel vielleicht nicht gesehen, aber gespürt.

Diese märchenhafte Stunde verführt zum Hinsehen, zum Hören jener Worte, die das Märchen in uns nacherzählen wird. Wir alle kennen doch so eine toughe Mutter, so ein mitunter aufbrausendes Rosenrot, im Gegenteil dazu ein sanfteres Schneeweißchen, Prinzen mit nicht so ganz sauberen Westen, die schön mal zu Bären oder Adlern werden können, oder Zwerge, denen man alles anhängen kann, sie werden ja nicht wahrgenommen, sind einfach zu klein. Und so wie schon während der Aufführung die aufmerksamen Kinder immer wieder mal fragen, was denn dies oder das bedeute, so werden die Gespräche sicher weitergehen. Und dann lässt sich dem Titel des einst bahnbrechenden Buches des Märchenforschers Bruno Bettelheim, „Kinder brauchen Märchen“ von 1977, durch die persönliche Erfahrung hinzufügen: „...und Erwachsene erst recht!“
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern