„Les Préludes“ von Stephan Herwig

Musik und Tanz im Rendezvous

Stephan Herwigs „Les Préludes“ uraufgeführt im Schwere Reiter

„Les Préludes“ ist eine Arbeit, in der sich Musik und Tanz auf Augenhöhe begegnen. Nach einer Stunde sind die Zuschauer*innen mittendrin im Sog.

München, 06/12/2022

Das Beste an Stephan Herwigs 15. abendfüllender Produktion ist, dass hier alle Erwartungen aufgebrochen werden. Zum ersten Mal in seiner Karriere als Choreograf der freien Szene hat er mit vorgegebener Musik gearbeitet. Damit ist er in einen Formatkosmos eingetaucht, der an intime Liederabende oder die Anfänge des deutschen Ausdrucktanzes denken lässt. Allerdings klammert Herwig alles Gefühlige, jede emotionale Ebene oder auf Schaueffekte ausgelegen Tanz konsequent aus.

Sein Raum ist rundum schwarz abgehängt. In der hinteren Ecke erhebt sich prominent ein Flügel. Wie ein Fels im Auf und Ab der Bewegungskompositionen, die ihn bald dank einer improvisatorisch aufeinander reagierenden Tänzergruppe anbranden – anfangs noch sehr minimalistisch zurückgenommen. Die Musik wird hier von Herwig – nach vielen Jahren selbst einmal wieder eingebunden in die verschieden langen, sich aber stets seriell fortspinnenden Aktionen – völlig gegen den Strich gebürstet interpretiert.

In seiner Unbeweglichkeit glänzt das Klavier im warmen Stimmungslicht (Michael Kunitsch), während Zoran Imširović dem Instrument, im Anschlag sehr präzise und fein, Stück für Stück die klangliche Seele aus Melodien, Rhythmen und den – in dieser Uraufführung am 1. Dezember im Münchner Schwere Reiter ganz wichtigen – Pausen dazwischen entlockt. Auf seine Anregung hin fiel die Auswahl auf sieben Préludes von Claude Debussy aus dem ersten Band seiner berühmten Klavierwerke. Die oft fast lässig mit Posen am Boden und plötzlichem Auflösen momentaner physischer Konzentration eröffnende Sequenz und das dynamisch völlig gegensätzlich bespielte Ende von Herwigs Neukreation „Les Préludes“ bildet Frédéric Chopins „Prélude pour le piano“ in cis-Moll opus 45.

Mit immer ähnlichen Bausteinen der zeitgenössischen Tanzsprache lassen Gaetano Badalamenti, Anna Fontanet, Anima Henn, Stephan Herwig, Alexandre May, Susanne Schneider und Alessandro Sollima das auf Stühlen und Kissen im Halbrund um die Bühne platzierte Publikum quasi daran teilhalben, wie sie sich einerseits ziemlich individuell, andererseits niemals gegen den Rest der gerade auf der Bühne Präsenten in die kurzen musikalischen Abfolgen einfühlen. Mit der Zeit verändert sich ihr impulsiv weiches Vokabular, das sich behutsam ausfaltet, die den Körper umgebende Sphäre austastet und später dann auch zackigere und sprunghaft schärfere Akzente setzt.

So erinnern manche Figuren an Pflanzen, deren Wachsen oder Tag- und Nachtleben wir im Zeitraffer verfolgen können. Die Tänzer*innen erfinden sich durch Berühren, gleiten aneinander vorbei und kommunizieren mittels Gewichtsverlagerungen, spiraligen Wendungen, abrupten Beinkicks, Drehungen oder dem Schwingen ihrer Extremitäten, Leiber und Köpfe. Manchmal kleben ihre blanken Füße schier an einer Stelle fest.

Bei aller vermeintlich abstrakten Herangehensweise wird die bewusst als Nebensache deklarierte programmatische Betitelung von Debussys „Danseuses de Delphes“ (nur Arme und Hände), das Zittern für „Le vent dans la plaine“, im Wiegen und sich Ausbalancieren „Des pas sur la neige“, „La fille aux cheveux de lin“ schließlich in ein Damenduett verpackt. In „La cathédrale engloutie“ tun sich alle zu einem zähflüssigen Klumpen, einer amorphen Masse zusammen, bevor die Choreografie in einem Sich-Auswechseln von nur mehr drei oder vier im Zentrum vor Energie sprühender Tänzer*innen gipfelt.

„Les Préludes“ ist eine Arbeit, in der sich Musik und Tanz auf Augenhöhe begegnen. Lange passiert das, was man hört, und das, was man an Moves zu sehen bekommt, nicht nebeneinander her. Die Interpret*innen legen bisweilen sogar erst richtig los als der Pianist verstummt. Nur am Schluss kommen die sieben Tänzer so in Fahrt, dass sie sich endlich direkt begleiten und vom Fluss der perlenden Tastenklänge tragen lassen. Das hat sich Herwig gut ausgedacht. Nach einer Stunde sind die Zuschauer*innen mittendrin im Sog, und die Tänzer*innen verschwinden im Dunkel.
 

Kommentare

Noch keine Beiträge